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RE: Russland - Quintus Fabius - 25.03.2021

Ottone:

Selbst wenn die Bedingungen wie hierzulande wären ändert das nichts daran, dass pro-westliche Parteien welche wir gutheißen würden sich auf die Großstädte konzentrieren würden und selbst dort nicht sicher die eindeutig stärkste Kraft wären. Nehmen wir mal an, es würden 10 mal so viele Menschen diese Parteien wählen als jetzt, 10 mal so viele ! Das ist völlig unrealistisch aber nehmen wir es mal rein theoretisch an.

Dann hätte diese Partei in einigen Großstädten 70% der Wähler, und käme auf dem Land dennoch gerade mal auf 1 %. Insgesamt über Russland gemittelt würde es nichtmal für eine Regierungsmehrheit reichen. Der immense Unterschied in den politischen Auffassungen beispielsweise zwischen St. Petersburg und ländlicher Bevölkerung in kleinen Städten im Ural könnte nicht größer sein.


RE: Russland - Ottone - 25.03.2021

Dem Meinungsunterschied Stadt-Land will ich gar nicht widersprechen, das ist so. Allerdings muss man sehen, dass sich Russland stark urbanisiert und die Zählung von 2010 insgesamt 73,7% der Bevölkerung in den Städten verortete. Hinzu kommt, dass damals 48% der Bevölkerung in nur zwei föderalen Bezirken konzentriert waren, nämlich Zentrum und Wolga.

Unter der älteren Bevölkerung ist der Einfluß des staatlich gelenkten Fernsehens (mit seinen zum Teil unsäglichen Sendungen) ausgesprochen groß. Hier wird die landesweite Meinung geprägt.


RE: Russland - Quintus Fabius - 25.03.2021

Ich schrieb explizit von Großstädten. Nehmen wir beispielsweise St. Petersburg und zum Vergleich Jekaterinburg, Tscheljabinsk und Omsk. Die drei Städte haben zusammen ungefähr so viel Einwohner wie St. Petersburg. Die politische Lage aber ist eine komplett andere. Je weiter nach Osten (und im Fall von Omsk östlich des Ural), desto mehr sieht man den Westen ™ als Feind Russlands und hegt umso mehr nationalistisches Gedankengut.

Und natürlich: zweifelsohne ist dieser (Ultra) Nationalismus gezielt von den russischen Medien über Jahre hinweg so aufgebaut und geschürt worden, nicht zuletzt auch im Auftrag von Putin. Dessen ungeachtet ist er jetzt vorhanden und er ist echt und er geht nicht weg wenn man die Fernsehmanipulation stoppen würde. Man hat da eine Sozialkultur von oben geschaffen, die sich selbst trägt und von selbst ausblenden würde was sie an Informationen sehen könnte wenn nicht Einfluss genommen würde.

Das ist längst ein Selbstläufer den das System Putin auch nicht mehr im Griff hat. Gerade das ist ja das Problem.


RE: Russland - Ottone - 25.03.2021

Ich habe gerade einmal nachgeschaut, in den 166 Großstädten (Stand 2017) leben 74 Mio Menschen, von insgesamt 144,5 Mio im gesamten Land. Das ist also etwas mehr als die Hälfte. Über ein Ost-West Gefälle der Einstellungen und Meinungen kann ich jetzt nichts sagen.

bpp / Lewada:
Zitat:"Selbstverständlich hat die scharfe, verteidigende konservative Propaganda ihre Wirkung auf die Bevölkerung, aber sie berührt nur die oberen Schichten des Bewusstseins." Kaum gehe die Propaganda wieder zurück, beobachteten die Soziologen des Lewada-Zentrums, wie entsprechende Einstellungen in der Bevölkerung sich ebenfalls verändern und auf ein langjähriges Mittelmaß zurückschwingen. Die Kraft der Propaganda liegt für Gudkow vor allem darin, dass die Menschen zu wiederholen (und oft tatsächlich zu glauben) beginnen, was so massiv aus dem Fernsehen auf sie einprasselt. Das funktioniere aber nur in jenen Bereichen gut, in denen eine eigene Meinung bei den Menschen eher schwach ausgebildet ist. Gudkow zählt dazu sowohl die internationale Politik, die die meisten Menschen in Russland vor allem aus der Perspektive von "Wir–Sie" sehen, als auch Fragen des "liberal-westlichen Diskurses, also Fragen der Toleranz und des Verhältnisses zu Minderheiten. Die Menschen interessiert das alles nicht sonderlich, und deshalb sprechen sie nach, was sie im Fernsehen gehört haben."
[...]
In der Sowjetunion konnte es keine Konservativen geben, denn das Land war ja per definitionem die Vorhut des Fortschritts. Der Streit darüber, was konservativ, was liberal oder was sozialdemokratisch war, konnte so nur in kleinen, klandestinen Zirkeln im Land oder eben im Exil stattfinden.



RE: Russland - lime - 26.03.2021

(25.03.2021, 23:56)Ottone schrieb: Ich habe gerade einmal nachgeschaut, in den 166 Großstädten (Stand 2017) leben 74 Mio Menschen, von insgesamt 144,5 Mio im gesamten Land. Das ist also etwas mehr als die Hälfte. Über ein Ost-West Gefälle der Einstellungen und Meinungen kann ich jetzt nichts sagen.

bpp / Lewada:

Unter dem Link finde ich folgendes Zitat: "...Das zeigt sich dann zum Beispiel in einer ultrakonservativen Familiendoktrin (Musterfamilie Vater, Mutter und mindestens drei Kinder)..."

Global betrachtet ist das wohl die Norm in den Augen von 90% der Weltbevölkerung.

Oder dieses Zitat: "Die Kremlpartei "Einiges Russland", die, so wäre angesichts der putinschen Rhetorik anzunehmen, diesen Platz einnehmen könnte (tatsächlich hat sie sich lange bemüht, in die "Europäische Volkspartei", den Zusammenschluss konservativer europäischer Parteien, aufgenommen zu werden, der auch die CDU und die CSU angehören), ist keine konservative, sondern eine auf den Staat orientierte Partei – sie ist, mit nur wenig Übertreibung, eine Staatspartei. Es geht um Machterhalt, nicht um Werte."

Warum muss ich beim letzten Satz an die CDU/CSU denken?

Mal ehrlich, wenn ich mir diesen Artikel genau durchlese dann fühlt sich das an wie Staatsbürgerkunde in der DDR, nach dem Motto: "Wir sind die Guten und die Anderen müssen einfach böse sein!". Wenn das der Stil der BPB ist dann gute Nacht!


RE: Russland - Ottone - 26.03.2021

Ich denke nicht, dass 3 Kinder die Norm sind, so wie z.B. jetzt von Erdogan propagiert.

Ja, die Union als Kanzlerwahlverein hat in der Tat ein paar Ähnlichkeiten, aber nichtsdestotrotz ebenso den christlichen Flügel welcher das C betont, und allgemein eine immer wieder diskutierte Wertebasis (vgl.: Politik mit/gegen Trump, weniger im Verhältnis zu China) sowie ein Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft. In Rußland selbst ist für Einiges Russland der Begriff "Machtpartei" üblich.

Die Kritik an Putin und seinem System ist deutlich, ja, wenn Du das mit Gut & Böse meinst.


RE: Russland - lime - 26.03.2021

(26.03.2021, 01:04)Ottone schrieb: Ich denke nicht, dass 3 Kinder die Norm sind, so wie z.B. jetzt von Erdogan propagiert.

Ja, die Union als Kanzlerwahlverein hat in der Tat ein paar Ähnlichkeiten, aber nichtsdestotrotz ebenso den christlichen Flügel welcher das C betont, und allgemein eine immer wieder diskutierte Wertebasis (vgl.: Politik mit/gegen Trump, weniger im Verhältnis zu China) sowie ein Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft. In Rußland selbst ist für Einiges Russland der Begriff "Machtpartei" üblich.

Die Kritik an Putin und seinem System ist deutlich, ja, wenn Du das mit Gut & Böse meinst.

Ich denke das Orthodoxe Christentum ist bei "Einiges Rußland" weit mehr verankert als der christliche Flügel in der CDU. Die CDU hat sich doch bei vielen ihren Ansichten in den letzten 20 Jahren um 180 Grad gedreht, da sehe ich bei den Putinunterstützern weitaus mehr Kontinuität. Ich habe auch kein Problem damit dass die BPB das System "Putin" kritisiert, denn da gibt es tatsächlich genug Kritikpunkte, das Problem ist dass sie das System "Merkel" zum Beispiel nicht kritisiert und das ist meines Erachtens einer echten Demokratie nicht würdig, die man ja gerne sein möchte und sich so gerne überhöht über andere Staaten und Systeme stellt.

Und zum Thema Familie als Begriff für Vater, Mutter und mindestens drei Kinder. Es ging darum was 90% der Bevölkerung als normal betrachten und was von der BPB hier lächerlicherweise als "ultrakonservativ" bezeichnet wird. Da stört mich klar das "ultra" denn es ist klar was damit suggeriert werden soll. Ich bin in meinem Leben auf der Welt bisher sehr viel herum gekommen und da ist benanntes Familienmodell einfach fast immer die Norm, auch wenn es viele nicht erreichen, so wird es doch von ihnen angestrebt. Einzig und allein in der westlichen Welt sieht man das teilweise anders, aber selbst in den westlichen Staaten glaube ich dass es auch dafür noch eine Mehrheit in der Gesellschaft gibt. Die sogenannte "westliche Welt" ist aber rein von der Bevölkerungszahl global gesehen auch ein Winzling. Nicht einmal 10% der Weltbevölkerung kann man dieser zurechnen und die Tendenz ist weiter klar sinkend. Ihr Einfluß wird weiter abnehmen, soviel ist sicher.


RE: Russland - Quintus Fabius - 26.03.2021

Ottone:

Ich habe gerade einmal nachgeschaut, in den 166 Großstädten (Stand 2017) leben 74 Mio Menschen, von insgesamt 144,5 Mio im gesamten Land. Das ist also etwas mehr als die Hälfte.

Zitat:Mal abgesehen davon dass manche dieser Großstädte deutlich konservativere Bevölkerungen haben als andere, und die von mir genannte 10 fache Zahl an Wählern weiterhin völlig unrealistisch ist, ändert sich dennoch nichts an meiner Aussage:

70% von ungefähr 51% der Wahlberechtigten (alle Großstädte) sind 35% der Stimmen. 1% von 49% der Wahlberechtigten (immer noch 10fache Wählerzahl) wären 0,49%. Würde die Wahl also so (vollkommen unrealstisch pro westlich verlaufen), dann kämen die westlich-liberalen Parteien auf ca 36% der Stimmen maximal. Beeindruckend und für russische Verhältnisse wäre das eine immense Opposition die dann durchaus auch politisches Gewicht hätte.

Das bedeutet aber, dass die anderen (nationalistischen) Parteien immer noch 30% von 51% und 99% von 49%, gesamt also 74% der Stimmen haben. Rechnen wir da noch die Kommunisten als dritte Kraft raus, welche auch Stimmen an die westlich-liberalen verlieren würden, dann lägen die Nationalisten immer noch bei 50% plus.

Wie du also siehst würde selbst eine verzehnfachung der Stimmen nicht zu einer pro-westlichen Regierung führen, sondern weiter Nationalisten herrschen.

Aus dem Artikel:

Zitat:Anti-LGBT-Gesetzgebung

Es ist klar dass dieser Punkt aufgrund der aktuell hier vorherrschenden Auffassung als negativ gewertet wird, aber ich kenne jetzt mal wirklich etliche Russen und kein einziger von ihnen hat sich je positiv über diese sexuellen Orientierungen geäußert, um es mal vorsichtig auszudrücken. Die russissche Gesetzgebung folgt hier definitiv dem Willen einer absoluten Mehrheit der Bevölkerung welche die öffentliche Zurschaustellung solcher sexueller Ausrichtungen scharf ablehnt (wenn auch insgesamt nicht mal so scharf wie in manchen Ecken von Polen so weit ich das aus offenen Quellen beurteilen kann). Entgegen der aktuellen Auffassung vieler Personen hier in dieser Bundesrepublik finden eben sehr viele Menschen weltweit eine solche Prägung ekelerregend und dies nicht weil sie in diese Richtung manipuliert worden wären, sondern weil dies die vorherrschende sozialkulturelle Grundströmung bei ihnen ist. Hierzulande betrachtet man dies als falsch, rückständig, absolut ablehnenswert, dort aber ist es genau umgekehrt. Das ist ein wirklich tief empfundener Widerwillen, und die Gesetzgebung ist hier mehr das Ei als die Henne.

BpB:

Zitat:Lew Gudkow, Soziologe und Direktor des Lewada-Zentrums, zweifelt allerdings daran, dass es sich hier tatsächlich um eine wertebasierte konservative Politik handelt

https://de.wikipedia.org/wiki/Lewada-Zentrum

Zweifelsohne zweifelt er daran und bezüglich der Seriösität seiner Aussagen könnte man genau so gut am anderen Ende des Spektrums auch Alexander Dugin befragen was für Russland richtig wäre. Das hätte die gleiche Qualität.

Ganz allgemein ist die Bundeszentrale für Politische Bildung leider nicht mehr das was sie früher einmal war:

https://www.nzz.ch/international/bundeszentrale-fuer-politische-bildung-in-ideologischer-schieflage-ld.1599958


RE: Russland - Ottone - 27.03.2021

Das Lewada Zentrum hat einen ausgezeichneten Ruf aufgrund seiner Unabhängigkeit, und das gilt noch immer, trotz der hanebüchenen Kennzeichnung als Ausländischer Agent im Jahr 2016. Dem Kreml ist das Lewada Zentrum ein Dorn im Auge, da es mitunter eine andere Wirklichkeit als die gewünschte zeichnet. Es sorgt auch dafür, dass der Staat nicht seiner eigenen Propaganda verfällt und die Realität gar nicht mehr zu erkennen vermag (s. China).

Neben "Macht Partei" wird einiges Russland auch als "Catch-All" Partei bezeichnet. Wie schon die Vorgängerpartei "Unser Haus Russland" konzentrieren sich hier Verwaltungsbeamte und sog. Bürokraten, die das Land regieren und steuern wollen. Das ist das Hauptziel, während Werte eine nachgeordnete Rolle spielen. Wenn Du der bpb kein Vertrauen schenkst und deren Publikationen für Dich disqualifizierst, dann finden sich wirklich sehr viele andere welche "Einiges Russland" genauso charakterisieren. Das ist eigentlich unstrittig. Während "Unser Haus Russland" die Partei von Jelzin war, so ist "Einiges Russland" jetzt die Partei von Putin. Wahrscheinlich wird sein Nachfolger wieder eine neue Partei entstehen lassen (sofern er nicht Schoigu heisst).

LGBT ist ein Reizthema an dem sich die Geister scheiden, sowohl an der polnischen Grenze als auch in Süd- und Zentralamerika. Um es deutlich zu sagen: Wer in Russland als Schwul erkannt wird, bekommt ganz schnell "auf die Fresse" - die Polizei wird nicht ermitteln. Allein die Haltung zum Thema LGBT reicht jedoch nicht aus um nach Konserativ ja/nein zu differenzieren. Entgegen weit verbreiteter Meinung dort ist Homosexualität aber eben keine Krankheit.

Einer Gleichsetzung des "Systems Putin" mit dem "System Merkel" kann ich nicht ansatzweise folgen.


RE: Russland - lime - 27.03.2021

(27.03.2021, 18:06)Ottone schrieb: Das Lewada Zentrum hat einen ausgezeichneten Ruf aufgrund seiner Unabhängigkeit, und das gilt noch immer, trotz der hanebüchenen Kennzeichnung als Ausländischer Agent im Jahr 2016. Dem Kreml ist das Lewada Zentrum ein Dorn im Auge, da es mitunter eine andere Wirklichkeit als die gewünschte zeichnet. Es sorgt auch dafür, dass der Staat nicht seiner eigenen Propaganda verfällt und die Realität gar nicht mehr zu erkennen vermag (s. China).

Neben "Macht Partei" wird einiges Russland auch als "Catch-All" Partei bezeichnet. Wie schon die Vorgängerpartei "Unser Haus Russland" konzentrieren sich hier Verwaltungsbeamte und sog. Bürokraten, die das Land regieren und steuern wollen. Das ist das Hauptziel, während Werte eine nachgeordnete Rolle spielen. Wenn Du der bpb kein Vertrauen schenkst und deren Publikationen für Dich disqualifizierst, dann finden sich wirklich sehr viele andere welche "Einiges Russland" genauso charakterisieren. Das ist eigentlich unstrittig. Während "Unser Haus Russland" die Partei von Jelzin war, so ist "Einiges Russland" jetzt die Partei von Putin. Wahrscheinlich wird sein Nachfolger wieder eine neue Partei entstehen lassen (sofern er nicht Schoigu heisst).

LGBT ist ein Reizthema an dem sich die Geister scheiden, sowohl an der polnischen Grenze als auch in Süd- und Zentralamerika. Um es deutlich zu sagen: Wer in Russland als Schwul erkannt wird, bekommt ganz schnell "auf die Fresse" - die Polizei wird nicht ermitteln. Allein die Haltung zum Thema LGBT reicht jedoch nicht aus um nach Konserativ ja/nein zu differenzieren. Entgegen weit verbreiteter Meinung dort ist Homosexualität aber eben keine Krankheit.

Einer Gleichsetzung des "Systems Putin" mit dem "System Merkel" kann ich nicht ansatzweise folgen.

Wirklich unabhängig kann man nur sein wenn man sich selbst finanziert und ideologie- und wertneutral wäre.

Bei LGBT ging es doch nur darum dass es eben für die große Mehrheit der Russen nur insofern ein Thema ist, dass sie diese Bewegung strikt ablehnen.


RE: Russland - Ottone - 27.03.2021

Und wie finanziert sich ein soziolgisches Institut wenn nicht durch Forschungsaufträge? Welcher Ideologie folgt das Lewada Zentrum?


RE: Russland - Quintus Fabius - 27.03.2021

Ottone:

Die Darstellung der BpB wie des Lewada Institutes, dass konservative Werte in der russischen Regierungspartei in Wahrheit keine Rolle spielen teile ich durchaus. Die Selbstdarstellung und die Wahrnehmung durch die russische Bevölkerung sind aber durchaus konträr dazu. Es spielt gar keine Rolle ob da die Macht an der Führungsspitze durch Nihilisten ausgeübt wird und die in der Propaganda hervor gehobenen Werte in Wahrheit gar keine Rolle spielen - es sind eben diese Werte derentwegen viele Russen dieser Partei dennoch folgen.

Die CSU ist auch in Wahrheit in ihrer Führung und weiten Teilen ihrer Mandatsträger keine christlich-soziale Partei, dessen ungeachtet wird sie von einer Mehrheit der Bayern gewählt, und dies nicht weil sie in Wahrheit diese Werte nicht vertritt welche sie propagiert, sondern weil man glaubt dass sie eben sehr wohl für diese Werte eintritt. Es ist nicht so relevant wie etwas in Wahrheit ist, sondern viel relevanter ist es, wie es wahrgenommen wird.

Zitat:Allein die Haltung zum Thema LGBT reicht jedoch nicht aus um nach Konserativ ja/nein zu differenzieren.

Zweifelsohne. Auch radikale Futuristen welche revolutionäre proto-faschistische politische Ansichten vertreten können hier die gleiche Position vertreten. Ich wollte mit der Nennung dieses Punktes auch nicht darauf hinaus, daraus eine Einordnung als Konservativ zu begründen, sondern nur darauf, dass "wir" im Westen gerade wegen solcher ideologischer Unterschiede hier Probleme mit der aktuellen russischen politischen Auffassung haben.

Aber untersuchen wir mal was für Werte von der Staatspartei in Russland propagiert werden:

(und um es nochmal zu betonen, es geht nicht darum wie es in Wahrheit ist, sondern darum was behauptet wird und wie es wahrgenommen wird - die Mehrheit der Russen ist nicht deshalb für die Staatspartei weil diese korrupt, skrupellos und geldgierig ist (obwohl solche Führungsfiguren in Russland durchaus bewundert werden), sondern weil sie sich konservativ darstellt)

Und nehmen wir für diese Untersuchung Aussagen der BpB, und damit eine unverdächtige Quelle:

https://www.bpb.de/internationales/europa/russland/analysen/158616/analyse-wirtschaftswachstum?p=all

Zitat:Die andere Option war, die konservative Bevölkerungsmehrheit zu mobilisieren und sie der kritischen Opposition entgegenzustellen – mit der Perspektive, die kritischen Gruppen auszugrenzen. Der Kandidat Putin musste in diesem Fall als konservativer Bewahrer und Schützer der Unterprivilegierten auftreten.
Ein Team um den noch aus der Sowjetära bekannten Filmregisseur Stanislaw Goworuchin organisierte die Wahlkampagne und setzte dabei auf die konservative Grundstimmung in der Bevölkerung und die verbreitete Angst vor Veränderung. Mit Hilfe der staatlich kontrollierten elektronischen Medien und gestützt auf die föderalen und regionalen Apparate sprach die Kampagne große Teile der Bevölkerung an. Am 4. März 2012 ereichte Putin in der Tat ein Wahlergebnis von 63,6 % und wurde damit zum dritten Mal Präsident Russlands.

Die Armut, die Ineffizienz der Apparate, die Korruption und das schlechte Unternehmensklima – all dies wurde nicht verschwiegen, doch lösen sollte sie "eine moralisch gesunde Gesellschaft". Den "geistigen Reichtum und die Einheit des russischen Volkes" wollte man pflegen, den Bürgern "Ergebenheit gegenüber der Familie" und "Verantwortung für das Schicksal des Vaterlandes" nahe bringen und so die Probleme lösen.

Technischer und ökonomischer Fortschritt gingen Hand in Hand mit nationalkonservativer Konsolidierung.

Das Programm der dritten Putin-Administration .....zielte auf die unterprivilegierte Bevölkerungsmehrheit außerhalb der Metropolen, denen man bessere Lebensverhältnisse versprach, während man sie in ihren antimodernen Vorstellungen bestätigte.

Sie schufen den Unterbau für die nationalkonservative Wende. Die Putin-Administration setzte darauf, dass große Teile der russischen Bevölkerung durch nationalistische Parolen ansprechbar sind.

Dazu trug gewiss bei, dass Putin den intelligenten Manipulator Wladislaw Surkow, der über Jahre Parlament und Parteien "gelenkt" hatte, aus der Präsidialadministration entfernt, und durch Personen ersetzt hat, die – wie Sergej Iwanow – eher dem konservativen Lager zuzurechnen sind.

Die Provokation, die eine weibliche Punkband namens "Pussy Riot" in der Moskauer Erlöserkathedrale inszenierte, erlaubte es der Führung, sich für die Wahrung russischer Werte einzusetzen – und damit breite Zustimmung zu ernten.

So bleibt der Eindruck, dass es allein um eine nationalkonservativ legitimierte Stabilisierung geht, die den kleinen Schönheitsfehler hat, dass sie die Balance des Elitenkartells gefährdet. Obendrein kann man sich mitunter des Eindrucks nicht erwehren, dass Präsident Putin das rechte Milieu, das er nutzt, nicht mehr zur Gänze kontrolliert. Und das ist gewiss Grund zur Sorge.

Soviel dazu. Und nun lehne ich mich mal aus dem Fenster und behaupte: dass Putin wie ein Gros der Eliten welche die Staatspartei in Russland lenken weder konservativ sind noch echte Nationalisten. Es handelt sich um skrupellose Machtmenschen die im Prinzip überhaupt keinerlei Werte haben. Soweit also stimmte ich durchaus mit dem genannten Institut überein. Dessen ungeachtet bedeutet dass eben nicht, dass diese von dieser Elite lediglich propagierten Werte irrelevant wären. Im Gegenteil: sie sind der primäre Grund für die Macht der Staatsapartei. Gerade weil sich diese erfolgreich bei vielen Russen als Konservativ verkaufen / darstellen kann herrscht sie. Gerade deshalb hat sie auf dem Land so viel Zustimmung, weil dort die Bevölkerung extrem konservativ ist.

Die Führung der Partei mag daher alles andere als konservativ sein, die Partei selbst muss sich als National-Konservativ darstellen und auch eine solche Politik zumindest in bedeutenden Anteilen praktisch real betreiben, sonst würde sie gestürzt werden. Putin muss daher selbst als Person sich ständig so darstellen, sonst würde er sich nicht halten können. Das er in Wahrheit charakterlich ganz anders ist spielt gar keine Rolle.

https://c8.alamy.com/comp/DP83MC/russian-president-vladimir-putin-at-the-orthodox-christmas-church-DP83MC.jpg

https://static.themoscowtimes.com/image/article_1360/d7/73498480-985B-4F05-B3F4-127A0B4BB5ED.jpeg

https://www.bbc.com/news/world-europe-51719764

https://www.youtube.com/watch?v=zpdkDZIkMbg

https://www.youtube.com/watch?v=euxt0argojI

https://en.wikipedia.org/wiki/Conservatism_in_Russia

Der Widerspruch zwischem dem Nationalkonservatismus einer Mehrheit der Russen, welcher von der aktuellen Elite gezielt zum Machterhalt noch geschürt und hochgeheizt wird und der wahren Natur des Regimes wird natürlich diesem über kurz oder lang um die Ohren fliegen. Daraus wird aber keine pro-westliche, liberale russische Gesellschaft entstehen. Sobald das System Putin fällt, wird Russland stattdessen massiv nach Rechts rücken. Das stellt für Europa eine erhebliche Gefahr dar.

Die Strategie zum Machterhalt der Elite um Putin ist daher im Prinzip der größte Fehler Putins, wenn sie auch zum Machterhalt vermutlich unerlässlich war. Die Fernwirkungen aber sind eine direkte Gefährdung des Friedens in Europa.


RE: Russland - lime - 27.03.2021

Woran genau erkennt man eigentlich als Laie dass die Putinpartei nur so tut als ob sie konservativ wäre aber in Wahrheit keine Werte vertritt? Die CDU/CSU mag genau solch eine bzw. zwei Machtpartei(en) sein, aber deshalb muss man nicht zwangsläufig von uns auf Rußland schließen?


RE: Russland - Quintus Fabius - 27.03.2021

lime:

Putin (und die Eliten an der Spitze der Partei) haben über viele Jahre hinweg mit einer Unzahl von Handlungen bewiesen, dass sie in Wahrheit keine konservative Einstellungen haben und es nur um Geld und Macht geht und man dafür bereit ist jeden nur denkbaren Wert praktisch zu verraten. Das kann jeder Laie einfach an den realen Handlungen dieser Personen ersehen. Sieh dir nur mal die Datschen-Kooperative Osera an und was aus ihren Mitgliedern geworden ist. Und sieh dir deren wahres Privatleben an. Das sind keine Konservativen. Das ist eine dekadente und durch und durch korrupte Kleptokratie welche die besten und edelsten Charakterzüge des einfachen russischen Volkes ausnützt.

Ich glaube außerdem durchaus, dass die Staatspartei selbst in Russland in der Basis und durchaus auch in weiten Teilen im mittleren Bereich wirklich echt und aus Überzeugung national-konservativ ist. Die Führung dieser Partei aber ist gesichert einfach nur korrupt und parasitär und ihrem praktischen realen Leben alles andere als konservativ.


RE: Russland - Ottone - 27.03.2021

Man könnte ja einmal versuchen durchzudeklinieren, welche Werte durch den versuchten Giftmord an Nawalny durch den Staat mit Füßen getreten wurden.

Die CDU/CSU ist schon deshalb nicht "genau so eine Machtpartei" weil sie keine absolute Merheit hat, immer auf Koalitionen zur Regierungsbildung angewiesen war und auch nicht unterbrechungsfrei die Regierung gestellt hat. Die Union hat vor Angela Merkel existiert, und wird es auch nach ihr tun. Dazu kommt der Föderalismus, der auch innerhalb der einzelnen Parteien wirkt. "Einiges Russland" hingegen ist zentralistisch angelegt, die Föderationssubjekte (aka Bundesländer) sind nachranging angeordnet. Vor allem aber ist Deutschland keine Autokratie, und somit eine Mitgliedschaft in der CDU nicht die Eintrittskarte für den Club der Glückseligen (es sei denn Du vermittelst Maskendeals, aber ich schweife ab).

Im Falle von "La République En Marche" und Macron ist das schon ein bisschen anders - überhaupt ist ja das politische System in Russland nach dem Vorbild Frankreichs modelliert worden.