So, hier mal meine Einschätzung.
Bevor ich aber damit gebinne, möchte ich mich doch etwas kritisch zu ein paar inadäquaten historischen Einschätzungen äußern:
Zitat:Schneemann postete
Sagen wir mal so - wann immer Polen in einen derben Nationalismus, der zugleich noch mit katholischem Polentum gemischt war, verfallen ist, hat sich das Land selbst am meisten geschadet. Stichwort "Sarmatismus" (grob sowas wie die Nationalideologie der Jagiellonen-Zeit, die aber im 17. und 18. Jhd., nach den Nordischen Kriegen und der Gegenreformation - die die Toleranz der Jagiellonen-Phase eliminiert haben -, zu einem intoleranten Mischmasch verkommen ist, welches Reformation und Aufklaerung ausgebremst hat und das Land - gemeinsam mit dem vom Ausland missbrauchten "Liberum Veto" - zum Abschuss freigegeben hat).
Also...mein Gott, sollen sie sich aufregen. Wenn sie die Tour fahren, werden sie sich selbst schaden, und wann immer Polen sich selbst geschadet hat, haben seine Nachbarn davon profitiert.
Aber wenn das dann passieren sollte, kann man ja schnell zwei Schuldige finden - Deutschland und Russland...
Also das ist - es sei mir erlaubt etwas zu polemisieren - eine sehr deutsche Einschätzung der polnischen Historie und auch nicht gerade sehr treffend. Zum einen: Starker Nationalismus als politiklegitimierender Ideologie hat wohl selten einem Staat gut getan. Mir wäre jedenfalls kaum ein Beispiel bekannt, dass nicht letztlich in Krieg, Verlusten und Toten geendet wäre. Und dass ein Deutscher nun den Polen vorwirft, dass deren übersteigerter Nationalismus in Katastrophen enden würde, finde ich lächerlich und historisch ungenau, ganz davon abgesehen, dass das unverschämt ist (Verweis auf den Ersten und Zweiten Weltkrieg).
Polens Abstieg auf die verknöcherte Sarmatenideologie zu beschränken ist (wiedermal ein deutsches Phänomen - der übersteigerte Idealismus und Fokusierung auf Ideen) auch ziemlich lächerlich. Vorallem, da die polnische Oberschicht multiethnisch war und sich letztlich im Rahmen einer adeligen Metaidentität des Polentums nur politisch identifiziert hat. Da von Nationalismus zu sprechen ist auch historisch ungenau, denn dies war eine plutokratische Identitätsformel, keine umfassende ethnisch zentrierte und exklusive Identität. Denn polnisch war man damals auch als Ukrainer, etc. wie man an der Formel nationis Polinia, gentes Ruthenes etc. sehen kann. Das war kein Nationalismus in der heutigen Formel und Art, das war eine Identitätsstiftung über ethnische Grenzen bei der Oberschicht hinweg. Ergo kann man das nicht einfach mit dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts gleichsetzen. Hier wurden eben Mythen geschaffen, um sich historisch zusammengehörig zu fühlen. Aber das machten auch die Kosaken etc.
Daran den polnischen Abstieg festzumachen, ist etwas verfehlt. Außerdem war Polen-Litauen gerade in dieser Verfallsphase alles andere als expansionistisch, wie man das sonst von Nationalismen kennt, sondern Polen wurde angegriffen zumeist.
Problematisch war einfach, dass die Königsmacht erodierte und daher die Macht der Adeligen unkontrolliert institutionell wuchern konnte und Reformen fehlte. Das war das Problem von 1650-1750. Mit einer übersteigerten Sarmatenideologie hat das nichts zu tun. Viel eher war generell das individualistische Bild des freien Adeligen in die Entartung geführt, aber das hat doch nichts mit dem heutigen Nationalismus zu tun, in dem das Kollektiv übersteigert wird. Im Gegenteil, in Polen-Litauen damals war der individualistische Freiheitsanspruch des Adeligen übersteigert und führte politisch und wirtschaftlich in den Ruin.
Mit einem kollektiven Gehorsam oder Kollektivgeist wie es typisch ist für Nationalismus, hat das nichts zu tun.
Man sollte da schon historisch genau sein. Und spätestens ab 1750 bröckelte diese innere Verbohrtheit... Polen hatte dann das erste Bildungsministerium Europas, die erste Verfassung usw. Rousseau schrieb sogar extra für Polen eine Verfassung. Alles das, weil eben diese alte plutokratische, individualistische Denke von einem mehr kollektiv orientierten emanzipierenden Nationalismus abgelöst wurde. Hier also hat der Nationalismus viel eher Polen gut getan, weil man am Wohl des Staates und des Volkes interessiert war und daher Reformen begonnen wurden. Und hier wirkten Russland und Preußen und Österreich eben sehr destruktiv, weil sie die Reformversuche von außen eben verhinderten. Hätte Polen vielleicht noch 20 Jahre mehr gehabt in Ruhe, wer weiß. Aber hier war es tatsächlich die Intervention Russlands und eben "Deutschlands", dass die innere Entwicklung verhindert hat. Ich verweise auf die Intervention Russlands 1792 und die Rücknahme der Maikonstitution. All dies darf nicht man nicht so simpel mit einer so lappsigen Formel wie von Schneemann wegwischen.
Und bitte, wo gab es schon Toleranz in Europa damals vor 1789? Polen lag mit seiner "freiheitlichen, oligarchischen Verfassung um 1500 oder 1550 weit vorn in Europa. Juden lebten dort recht gut, eine breite Schicht der Bevölkerung (für die damaligen Verhältnisse) hatten politische Rechte und die Reformation verbreitete sich frei und ungehindert. Mit dem Verfall fiel Polen letztlich nur auf europäischen Durchschnitt zurück. Wo gab es denn Fortschritt und Modernität in Deutschland? Das einzige, was dort modern war im Vergleich zu Polen, waren die sich entwickelnden Bürokratien.
Und der Nationalismus des 19. Jahrhunderts war ein emanzipierender Nationalismus in Polen, auf Förderation, Multiethnizität und Revolution ausgerichtet.
Er wurde erst zu einem national aggressiv, exklusiven Nationalismus um 1880 oder 1900. Aber das war auch nur eine Nachentwicklung im Vergleich zum russischen oder deutschen Nationalismus, nachdem man deutscherseits und russischerseits erheblichen Druck auf die Polen gemacht hatte.
Dass Polen dann die Chancen des Ersten Weltkrieges genutzt hat, kann man ihnen auch kaum zum Vorwurf machen (wie es Schneemann tat??), denn immerhin war die polnische Nation mit Unterdrückung, Deportation und Kampf und Blut von Deutschen, Russen und Österreichern unterdrückt wurden, eben weil jene die Schwäche der Polen genutzt hatten. Dass nun Polen aggressiv die Schwäche der anderen ausnutzte, kann man schwerlich als Vorwurf formulieren, oder?
Und gegen die Sowjetunion ist fast jeder 1918 und 1919 vorgegangen, anfänglich ging Polen auch mit dem Accord der Westmächte vor. Und hier ging es letztlich um Einflußsphären und Macht. Die Sowjets wollten ja auch gen Westen marschieren. So oder so wäre es wohl zum Konflikt gekommen. Und die Besetzung litauischer Gebiete speist sich daraus, dass sich auch eine litauische Nationalbewegung entwickelt hatte, aber immer noch viele Polen dort lebten bzw. Litauer, die sich zum Polentum bekannten (der Riss ging durch Familien). Auch hier muss man die Umstände kennen und kann nicht so einfach Pauschalurteile abgeben, wie hier geschehen. Gerade die Deutschen kennen sich bei sowas doch aus.
Auch hier kann ich die historischen Vorwürfe gegen Polen bestenfalls als Steinwurf aus dem Glashaus werten.
Polen wollte in der Zwischenkriegszeit eine Politik der Stärke fahren, die aber natürlich völlig misslang. Aber hier waren die Lektionen der Geschichte, dass man alleine kämpfen muss, so, wie man es imme rgetan hat.
Und nach dem Zweiten Weltkrieg folgten trotz erheblichen Verlusten und nie endendem Kampf die sowjetische Besatzung.
Für die Polen endete letztlich der Zweite Weltkrieg samt Folgen erst 1989, nicht 1945 wie für die meisten Deutschen. Das sind erhebliche Unterschiede, die on Deutschland gerne vergessen werden.
Und angesichts dieser Geschichte wird in Polen vieles völlig anders gesehen. Mag die Ostseepipeline hier nicht viel Aufhebens gemacht hat, in Polen war es eine große Sache, denn die schlechten Erinnerungen sind de-facto zahlreich an die deutsch-russische Zusammenarbeit, auch wenn Schneemann dies fälschlicherweise relativieren wollte, wie ich aufgezeigt habe.
Und die Kaczynskis sind eben radikale Politiker, deren Politikwahrnehmung sehr stark historisch geprägt ist und die das Wort Diplomatie nicht mal buchstabieren können.
Um es mal kurz zu machen:
Die polnische Position als solche ist letztlich für sich genommen durchaus gerechtfertigt. Es stellen sich immer wieder Länder quer, drohen mit Vetos und kochen ihr eigenes Süppchen. Spanien wegen den Strukturfonds, Frankreich bei den Agrarsubventionen (Welthandelsrunden wären da schon allein an den Franzosen fast gescheitert), Briten bei zahllosen Aspekten, es blockierne immer wieder Länder. Nur bei den Polen, da wird in Deutschland immer ein heillloses Geschreie gemacht. Um die Blockadedrohung der Briten hat sich in Deutschland kaum jemand gekümmert. Aber die Polen, die bösen Polen wurden aufs Korn genommen, weil sie das getan haben, was vor ihnen schon viele andere gemacht haben. Ich erinnere mich kaum an solche Kampagnen gegen die Briten, Spanier oder Franzosen in den deutschen Medien.
Und dann kommen diese oberflächlichen Nationalismuskommentare wie bei Schneemann, die bloße Unkenntnis der Geschichte offenbaren.
Ich will damit nicht die ungeschickte und undiplomatische und auch lächerliche Vorgehensweise der PiS-Regierung beschönigen. Das ist ziemlich erbärmlich, wie die vorgehen. Keine diplomatische Abs´timmung, lächerliche Argumente. Die Kaczynskis sind sehr schlechte Repräsentanten Polens im Ausland. Trotzdem aber ist das nicht alles. Es gibt auch gerade in Deutschland eine latente Polenfeindlichkeit. Man kann und will nicht akzeptieren, dass östlich der Oder nicht nur Billigarbeiter und arme Schlucker leben, sondern auch eine nach Bestätigung suchende und selbstbewusst werdende europäische Mittelmacht, die eine sehr bewegte, aber auch große Geschichte hat und nach langem Kampf auch einen entsprechenden Platz im neuen Europa haben will. Und das heißt nicht, dass man mit guten Worten abgespesit wird oder dass man sich anschaut, wie andere Politik machen oder Deals über ihre Köpfe abschließen (wie Putin und Schröder). Das glaube ich, will man in Deutschland nicht sehen. Der arme Schlucker will nicht in ewiger Dankbarkeit vor Deutschland für den EU-Beitritt kuschen, sondern erinnert auch selbstbewusst an den Kampf gegen den Kommunismus und Solidarnsc, erinnert an die schlimme Zeit zwischen 1945 und 1989.
Und das wird in Deutschland nicht gern gesehen. Und da dies nun auch so schlecht vorgetragen wird, kommt es eben wieder zu alten deutsch-polnischen Reflexen.
Ich denke, die Polen sollten nicht krampfhaft versuchen, stark zu sein, denn da übertreiben sie es nur.
Die konervativen Eliten, die Polen revolutionieren wollen und nun endgültig mit dem Gespenst des Kommunismus mit fast schon paranoider Angst jagen, müssen sich auch von der Geschichte lösen. Nicht alles muss und kann man in der alten Denke hinbekommen. Aber die Deutschen sollten auch mal lernen, dass östlich der Oder nicht nur Billigarbeiter leben oder dass das ein Puffergebiet ist zwischen Deutschland und Russland, sondern auch eine dynamische selbstbewusste Mittelmacht, die man mitsamt ihren Interessen auch anerkennen muss. Und letzteres wird in Berlin sehr wenig getan, denn die Küngelei mit Moskau wird sehr kritisch gesehen in Warschau.
So viel von mir.