(08.09.2024, 08:19)Schneemann schrieb: [ -> ]Diese Perspektive mag es tatsächlich geben, und sie hat zumindest hinsichtlich des Gegensatzes zwischen Schiiten und Sunniten auch einen wahren Kern, denn man weiß in Teheran ob der unversöhnlichen Feindseligkeiten gegen das eigene "ketzerische Abweichlertum" seitens eifernder Sunniten.
Die überwältigende Mehrheit der Iraner machen sich frei von religiösem Sektierertum. Aus schiitischer Sicht ist ihre Abspaltung keinem religiösen Dissenz geschuldet, sondern man ist einem anderen Anführer gefolgt, weil man diesen für den rechtmäßigen Nachfolger des gemeinsamen Propheten sieht. Das hat für die Schiiten im Iran funktioniert. Für andere hat das sicherlich eher weniger gut funktioniert aus der Minderheitensituation heraus. Aber deshalb sehen sich nicht die Iraner in der Defensive gegen sunnitische Bedrohung.
Gezielt medial seitens der Staatsführung spricht man sich sowieso frei von religiösem Sektierertum, was zwar eigentlich auch nicht stimmt, aber das ist die Selbsteinschätzung und so will man gesehen werden. Man hält sich selbst für religiös tolerant gegenüber Menschen die eine der biblischen Religionen verfolgen. Gleichwohl gibt es Menschen die da auf einem Irrweg sind aus ihrer Sicht.
Tatsächlich wurde das Schiitentum im Iran selbst zwischen 1500-1700 n.Chr. toleranterweise mit dem Schwert Top-Down durchgesetzt und in diesem Zuge die meisten Sunniten zwangskonvertiert oder vertrieben. Seit dieser Zeit hat der Iran keine nennenswerten Religionskriege zur Landesverteidigung geführt. Der Krieg gegen den Irak Saddam Husseins war kein Religionskrieg gegen "Sunniten", sondern ein schiitisch-iranischer Religionskrieg zur Landesverteidigung gegen das "Böse", damals schon absolut geopolitisches, weltliches Thema seitens der Angreifer. Da waren keine radikalen Sunniten am Werk.
Die Iraner haben im Gegensatz zu Arabern nicht mal bei einem der Kreuzzüge eine Rolle gespielt, so dass auch hier kein geerbter Religionskrieg gegen Christen im Westen im historischen Gedächtnis verankert wäre. Da ist man geopolitisch und der Sicht eher mit Indien verwoben als mit dem Mittelmeer. Seit 1700 hat der Iran aus einer defensiven Lage heraus u.a. Nord-Aserbaidschan an Russland verloren, im Osten größere Gebiete an England verloren. Leicht zu dominierende Gebiete im Persischen Golf wurden von Portugiesen, Briten und Amerikanern besetzt.
Im Ersten Weltkrieg wurde der Iran von UK/Russland besetzt und ausgehungert und im zweiten Weltkrieg wurde der Iran von UK/Russland besetzt und eine Marionette installiert. Seit dem Sturz des Schah sieht sich der Iran westlichen Repressionen und Sanktionen ausgesetzt. Seit 19xx wird jedes Jahr irgendwo im Westen über eine militärische Option oder eine Destabilisierung des Iran diskutiert und diese geplant und oder durchgeführt. Der Iran ist hier in der Defensive, weil er das nur überstehen kann, in dem er sich auf all diesen Gebieten wirtschaftlich, politisch und militärisch verteidigt. Es ist nicht der Iran der sich in Deutschlands Energiepolitik oder Innenpolitik einmischt.
Aber in Paris und Albanien sitzten die MKO ganz offiziell jeweils mit Headquarter und diplomatischer Repräsentanz und deren Anhängerschaft steht unter Staatsschutz. Was die Opferzahlen angeht, ist die MKO keinesfalls weniger blutdurstig als salafistische Attentäter. Die MKO sind ein Verbund aus konservativen Schiiten, Kommunisten und Royalisten. Vielleicht sind da auch ein paar Sunniten dabei und Christen und Juden und Bahai und Atheisten. Sowas wie der Dachverband der iranischen Diaspora.
Die äußeren Bedrohungen des Staates und des Volkes sind vielschichtig, im Iran selbst fühlt sich kein Schiit religiös verfolgt oder in der Defensive explizit durch "Sunniten". So wird das aus dem historischen Gedächtnis heraus im Iran nicht gesehen. Das mag im Jemen natürlich anders sein. Aber das darf man dann auch nicht verwechseln.
Gleichwohl ist das Schiitentum nicht auf den Iran beschränkt. Historische Schlachten zwischen arabischen Schiiten und arabischen Sunniten, die man auch im Iran an religiösen Feiertagen beklagt, sind durchaus im religiös-historischen Gedächtnis verankert. Schauen wir genau da gern mal genauer hin.
Diese religiösen Feierlichkeiten der Schiiten laufen stark vereinfacht gesagt überwiegend nach dem Schema, dass verlorene Schlachten und geopferte Persönlichkeiten / Märtyrer betrauert werden. Diese sind historisch ausschließlich in Schlachten gegen Sunnitische Herrscher und sunnitische Armeen entstanden. Jetzt könnte man daraus ableiten, dass die Schiiten darüber einen Hass oder Rachedurst gegenüber den Sunniten explizit zelebrieren würden im Rahmen solcher kulturellen Feste. Das wäre ja DIE Gelegenheit dem Ausdruck zu verliehen, Fahnen von Saudi Arabien, den Taliban und ISIS verbrennen oder so. Nein. Passiert nicht. A) sind die Feste dafür zu heilig und b) Sunniten könnten problemlos daran teilnehmen, wenn es ihnen irgendetwas bringt. Das Thema ist - und es ist
wirklich wichtig das zu verstehen - "Gut gegen Böse". Die Märtyrer sind im Kampf gegen das Böse gefallen. Gut gegen Böse. Richtig, gegen falsch.
Daher ist es für die iranische Propaganda auch so wichtig, auf der Seite der Richtigen, der Guten, zu stehen. Sie können gemäß ihrer eigenen Legende aus einer Verteidigung im "Widerstand" arbeiten. Oberhalb der Tischkante die linke und die rechte Back hinhalten, im Gegenzug unterhalb der Tischkante zurücktreten.
Böse waren die anderen und man selbst hat sich nur verteidigt. Urmenschliche, simple, gern genutzte Legitimation,.. hätte ich fast gesagt.
Wie für jeden anderen Staat oder Volk ist es gleichgültig wer oberhalb der Tischkante die Watschen verteilt. Sunniten, Kapitalisten,Römer, drölfhundert berittene Mongolen...egal wer da kommt. Es besteht durchaus große Terrorgefahr durch Wahabiten und Salafisten. Erheblich größer als das zusammengenommen für ganz Europa zutrifft. Trotzdem gibt es nicht sowas wie Hass auf Sunniten i.A.
Die Iraner wissen sehr wohl, worum es sich bei diesen Attentätern handelt. Das sind Anhänger einer relativ "mordernen" Ausprägung des radikalsunnitischen Islam. Ursprünglich als bad bitches der Ägypter und Saudis hofiert und gefördert, bis man dort im Rahmen einer internen Übereinkunft (tut der König dem Kalifat nichts, tut das Kalifat dem König auch nicht weh) sehr schnell sogar selbst die Kontrolle über diese Ideologie und diese handelnden Personen verloren hat. Weitestgehend. Damals und weiterhin werden diese Gestalten vom Ausland halbherzig bekämpft und sogar gezielt dazu vorbereitet, u.a. auch im Iran Anschläge zu verüben. Um Unsicherheit zu erzeugen und das Land gezielt zu destabilisieren. Das sind nicht DIE Sunniten. So etwas kann es bei Sunniten nicht geben, weil sie keine hierarchischen, zentralen Organe bzw. Autoritäten haben. Im sunnitische Islam herrscht etwas mehr religiöse Anarchie, so dass der eine nicht weiß was der andere tut. Das wissen die Iraner ganz genau. Grundlage jeder erfolgreichen Verteidigung ist es, den Angreifer zu erkennen.