Rudi:
In der praktischen Realität neigt sich auch bei westlichen Streitkräften vieles sehr oft in Richtung Befehlstaktik, selbst wenn die Auftragstaktik in der Theorie noch so hoch gehalten wird. Gerade die Bundeswehr ist da ein Musterbeispiel, von hehren Ansprüchen welche der Realität im Einsatz eben nicht genügen. Aber noch darüber hinaus gibt es nur extrem selten hier ganz reine Formen, meist wird eine Mischung aus beidem verwendet, bzw. gibt es trotz aller Doktrin und Zielsetzung beides nebeneinander.
Die Annahme also, dass sich hier zwei Systeme absolut diametral gegenüber stehen und es entweder das eine oder das andere ist, tritt so in der praktischen Realität nicht auf.
Mein rein persönlicher Eindruck ist zudem, dass du wie sehr viele (insbesondere fast alle die Crefeld gelesen haben) sowohl die Wehrmacht überschätzt als auch die Auftragstaktik als militärischen Wert zu hoch gewichtest. Die Wehrmacht war in vielem gar nicht so gut und vieles was man da annimmt ist mehr Schein als Sein. Und ebenso ist die Auftragstaktik zwar ein großartiges theoretisches Konzept, die reale praktische Umsetzung aber eine komplett andere Geschichte. Zudem könnte man noch anmerken, dass die Wehrmacht verloren hat. Es ist eigentlich erstaunlich, dass man heute Auffassungen der Wehrmacht so hochhält und versucht deren Konzepte zu imitieren (Maneuver Warfare / Mission Command etc) obwohl es sich ja um die Armee handelt, welche im Kampf dann unterlag.
Das gleiche gilt für den Dualismus von Abnutzungskrieg und Bewegungskrieg (Attrition Warfare vs Maneuver Warfare). IOder ob ich den Fokus nach Innen richte, auf dort ablaufende Prozesse und versuche diese zu optimieren, oder ob ich ihn nach außen richte, auf die angestrebten Ergebnisse. Und auch hier wie bei allen solchen Dualismen gilt meiner Meinung nach, dass die reine (extreme) Form praktisch extrem selten vorkommt und meist beides vermischt oder nebeneinander her praktiziert wird.
Nicht nur in der Bundeswehr klaffen dabei zwischen Anspruch und Wirklichkeit gewaltige Löcher, auch bei den US Streitkräften (nach denen du ja explizit gefragt hattest) ist dies so. Man erklärt zwar Mission Command zur Doktrin und anzustrebenden Vorgehensweise, aber die Realität sieht völlig anders aus.
Das gleiche übrigens bei den Ukrainern die eben keineswegs so hervorragend sind (vom Können her) wie das meist kommuniziert wird. Es hakt in der ukrainischen Armee immer noch gewaltig, es fehlen auch dort massiv Unteroffiziere und auch in der ukrainischen Armee ist der Ungeist der Sowjetzeit noch lange nicht überwunden. Erst jetzt, durch den realen Krieg, verbessert sich die ukrainische Armee fortwährend und entwickelt sich rasant evolutionär weiter, unter dem Druck der Ereignisse.
Noch kurz vor Kriegsbeginn stand die ukrainische Armee in Wahrheit beim handwerklichen Können, bei der Frage der Auftragstaktik, bei der Ausbildung usw. gar nicht so gut dar. Es gab damals Artikel welche explzit betonten, dass die Ukrainer gegen Russland im Krieg untergehen würden, weil sie sich viel zu langsam in Richtung moderner westlicher Streitkräfte entwickeln würden und es nicht ausreichend mit dem Umbau und der Modernisierung der Streitkräfte dort voran geht. Und weil das Können der ukrainischen Offiziere unzureichend sei, die Ausbildung schlecht sei, es immer noch zu viel Korruption gäbe usw usw
Erst durch den Krieg selbst, und seine besonderen Umstände hat sich die Ukrainische Armee erst zu dem entwickelt, was sie jetzt ist. Lernen durch Tun, Lernen durch Versuch und Irrtum, Entwicklung der richtigen Strukturen und Vorgehensweisen durch den äußerst heftigen Druck und die extremen Umstände, welche dass was dann notwendig ist von selbst herbei zwingen.
Damit dies so stattfindet, damit die Umstände die richtigen Strukturen, Mechanismen und Prozedere herbei zwingen können, bedarf es vor allem anderen der Anpassungsfähigkeit. Diese ist ein Wert den man getrennt von der Frage der Auftrags- oder Befehlstaktik betrachten sollte. Der primäre Vorteil der Ukrainer gegenüber den Russen war weder die Auftragstaktik, noch dass der Westen die Ukrainer mit Waffen belieferte, sondern vor allem anderen die deutlich höhere Anpassungsfähigkeit. Und die Lernfähigkeit während der Einsatz läuft.
Vor dem Krieg waren die Ukrainer nicht so lernbereit, war die Lernfähigkeit deutlich geringer als sie es jetzt ist. Unter dem Eindruck der Ereignisse aber, unter den extremen Umständen, entwickelten die Ukrainer eine enorme Lernfähigkeit. Umgekehrt erwies sich die russische Armee weder lernfähig, noch als ausreichend anpassungsfähig. Man passte sich zwar auch an, aber eben viel zu langsam und jeweils nicht weitgehend genug und hinkte so immer hinterher.
Diese schlechtere Anpassungsfähigkeit an die äußeren Umstände war und ist für die russischen Streitkräfte deutlich problematischer und bedeutsamer als die Frage von Auftrags- vs Befehlstaktik. Diese spielen für diese Frage nur dahingehend hinein, als dass es bei einer rigide auf Befehlstaktik ausgelegten Armee wesentlicher wichtiger ist, dass die höhere Führung besonders qualifiziert und besonders anpassungsfähig, geistig flexibel und schnell und von erheblichem Können ist. Wenn dies der Fall ist, kann eine solche Armee dann sogar einer Armee welche sich in Auftragstaktik versucht überlegen sein.
Exakt das Gegenteil war aber im vorliegenden Fall gegeben. Die höhere militärische Führung der russischen Streitkräfte wurde und wird seitens der zivilen Führung massiv behindert, in jeder Weise geschädigt und beeinträchtigt und ist durch jahrelange Fehlentwicklungen nicht in dem Zustand in dem sie eigentlich sein müsste um so einen Krieg führen zu können.
Noch eine kurze Einzelanmerkung:
Zitat:So ist ja auch der Sturm des Flughafens Hostomel nicht am Ausbildungsstand der eingesetzten Soldaten gescheitert, sondern am taktischen Vorgehen/Planung der Führung.
Der Sturm von Hostomel, genau genommen also der Theater Entry der Luftsturmeinheiten dort verlief im Endeffekt absolut plangemäß und war keineswegs schlecht gemacht. Insbesondere war die taktische Planung ohne große Fehler und ganz normaler Standard.
Was dann daraus geworden ist, und wie es nach dem Sturm weiterging, dass war hier die eigentliche Geschichte. Der Sturm selbst verlief demgegenüber ganz normal und war erfolgreich.
Als die weiteren (anderen) Pläne dann aber nicht mehr nach Plan liefen, dann entstanden erst die Probleme. Und exakt da sind wir wieder beim Thema: der mangelnden Anpassungsfähigkeit der russischen Streitkräfte. Man hatte einen im Prinzip guten Plan, man verfolgte ihn, der erste Teil (der eigentliche Sturm auf Hostomel) verlief erfolgreich, dann aber änderern sich die Umstände, Teile des Plans scheiterten und dem folgend war man nicht in der Lage sich ausreichend schnell anzupassen, sondern spulte einfach weiter Prozedere ab, die sich längst durch die reale praktische Entwicklung völlig erübrigt hatten.
Der Grund warum die Luftsturmoperation ihr Ziel nicht erreicht war höchst einfach: Nach der Landung der VDV und einiger Speznaz Einheiten per Heli, sollten nach der Besetzung der Landebahnen sofort mit Transportflugzeugen Verstärkungen heran gebracht werden. Diese sollten landen und diese Truppenverstärkungen ausladen, bevor die Ukrainer einen organisierten Gegenangriff zustande bringen. Wären diese Transportmaschinen mit nicht unerheblichen Mengen an Soldaten und Gerät gelandet, wäre die ganze Sache dann im weiteren komplett anders gelaufen.
Aber: bereits auf dem Anflug nach Hostomel wurden zwei IL-76 von der Ukraine abgeschossen, und der Rest drehte daraufhin ab, weil man den weiteren Anflug für zu Risikoreich hielt. Nur deshalb gelang es dann dem danach folgenden ukrainischen Gegenangriff die Russen vorübergehend aus dem Flughafen zu vertreiben. Und auch wenn die russsischen Luftsturm-Einheiten dann die Ukrainer wieder aus dem Flughafen heraus werfen konnten, hatte man seitens der russischen Führung wegen des erfolgreichen ukrainischen Gegenangriffs im weiteren die Idee per IL-76 dort massiv Truppen hinzuverlegen dauerhaft aufgegeben.
Dieser Gegenangriff wäre aber eben nie erfolgreich gewesen, wenn nicht die zwei IL-76 abgeschossen worden wären und der Rest der Maschinen dann abdrehte. Denn dann wären die Russen in Hostomel zu stark gewesen um sie dort auch nur vorübergehend zu vertreiben.
Und erst nach der Aufgabe des ursprünglichen Planes dort weitere Truppen einzufliegen war die weitere Präsenz der VDV dort sinnlos geworden. Statt sie aber folgerichtig zu evakuieren beließ man sie einfach dort und ließ sie dort gegen immer stärkere ukrainische Verbände immer weiter kämpfen. Ohne dass dies noch irgendeinen Sinn oder Grund gehabt hätte, weil letzterer ja bereits weggefallen war.
Noch zwei weitere Sichtweisen zur gleichen Thematik:
https://soldat-und-technik.de/2022/09/st...dekraefte/
https://mwi.usma.edu/an-airfield-too-far...-airfield/
Hier noch der eigentliche Luftsturm aus russischer Ego-Perspektive:
https://twitter.com/RALee85/status/15027...wsrc%5Etfw
https://www.youtube.com/watch?v=2xVerbh-K5I