Zitat:Mobilisierung heißt, dass irgendwelche jungen Wehrpflichtigen oder Reservisten mit jahrelang zurückliegender Ausbildung herangezogen werden.
Zitat:Selbstredend werden diese keine höhere taktische Kompetenz an den Tag legen können
Spezifisch dazu muss ich noch etwas ergänzen: Die russische Doktrin sieht eine solche taktische Kompetenz gar nicht vor. Deshalb spielt es in Russland auch viel weniger eine Rolle wie lange deine Ausbildung her ist.
Das sieht man auf allen Ebenen, von der Frage wie man ein Bataillon einsetzt bis hinunter zur einfachsten Infanteriegruppe. Alles ist auf derart einfache taktisch nicht-anspruchsvolle Vorgehensweisen hin ausgelegt, dass selbst Leute ohne jede militärische Vorausbildung dies auf der Stelle können.
Das ist intentional weil die Idee der Sowjetunion (wie der russischen Armee heute in deren Nachfolge) es gerade eben war (und ist), Wehrpflichtige mit möglichts wenig können trotzdem militärisch einsetzen zu können. Deshalb gehen beispielsweise russische Infanteriegruppen völlig anders vor als westliche, sind die Waffen anders konzipiert und werden anders eingesetzt.
Das hat erhebliche Nachteile und Vorteile. Zum einen sind so hohe Verluste de facto vorprogrammiert. Zum anderen kann man so aus dem Stand immense Mengen an Truppen mobilisieren und tatsächlich einsetzen und sind diese Truppen im Vergleich zu Untrainierten westlichen Soldaten (westliche Reservisten deren Ausbildung lange zurück liegt, mangelhaft ausgebildete Neuaushebungen) leistungsfähiger.
Das ganze russische System ist im Prinzip darauf hin ausgerichtet, möglichst viel aus untrainierten oder unzureichend trainierten Truppen heraus zu holen. Dann ist es ernsthaft die Auffassung, dass die Fähigen sich schon durchsetzen werden und der Tod der Unfähigen irrelevant ist.
Strelkov hat schon vor Jahren bitterlich über diese Doktrin geklagt und gesagt, dass sie einfach völlig aus der Zeit gefallen ist. Er versuchte ja immer als er die Truppen im Donbass führte (2014) eigene Verluste so niedrig wie möglich zu halten und zog sich deshalb beispielsweise zurück als seine Stellungen bei Slavyansk bedroht waren. Daraufhin warf man ihm in russischen Medien und vor allem seitens der russischen Armee vor ein Feigling zu sein und sich unrussisch zu verhalten. In einer Diskussion sagte er damals: dass, wenn er dort verblieben wäre er mindestens 50% Verluste gehabt hätte und die Höhe der Verluste es sehr fragwürdig gemacht hätte die Stellung zu halten. Daraufhin erklärte man ihm (ernsthaft) dass 50% Verluste nichts seien und er trotzdem hätte versuchen sollen die Stellung zu halten. Denn eventuell hätte es ja geklappt, und falls nicht, wäre es das gleiche wie jetzt auch. Sein Versuch zu erwiedern, dass man dann aber ja 50% der Männer verloren hätte und dies für zukünftige Operationen relevant sei wurde mit höhnischem Gelächter bedacht. Für zukünftige Operationen hätte man ja dann neue andere Soldaten verwenden können.
Diese
Wegwerf-Mentalität zu begreifen ist absolut entscheidend wenn man die russische Doktrin verstehen will. Das zieht sich wie gesagt durch alle Ebenen, bis hin zu der Frage wie die Fahrzeuge und Panzer konstruiert sind.
Beispielsweise sind Kampfpanzer für die Russen nach offizieller eigener Doktrin Wegwerfware. Die schickt man vor, sie fallen aus, man schickt neue. Es ist explizit durch die Doktrin vorgesehen dass man viele Kampfpanzer verliert. Diese Kampfweise in Echelons / Wellen und die dazugehörige Doktrin der Wegwerf-Einheiten ist für einen nach westlichen Maßstäben agierenden Gegner katastrophal, setzt aber natürlich voraus, dass man auch real tatsächlich die dafür notwendige Quantität hat.
Die daraus entstehende beiderseitige Abnutzung führt dann dazu, dass beide Seiten über kurz oder lang nur noch mit de facto unzureichend ausgebildeten Einheiten dastehen und DANN haben die Russen definitiv durch ihre grundsätzlichen Auffassungen einen erheblichen Vorteil.
ABER: es stellt sich eben berechtigt die Frage (was Nightwatch ja hier anreißt), ob die Russische Armee überhaupt noch real die für ihre eigene Doktrin und Vorgehensweise notwendigen Mittel hat, ob sie also über die notwendige Quantität verfügt um diese Abnutzungsschlacht führen zu können ?!
Oder ob diese Quantität eben nicht mehr vorhanden ist.
Für die Beurteilung wie es also weitergeht ist in keinster Weise relevant ob die Russen in der Ukraine eine sehr große Zahl von Panzerfahrzeugen verloren haben, dass spielt dafür gar keine Rolle! Relevant ist die Frage, wie es "dahinter" aussieht, also ob eine Mobilmachung so erfolgen kann wie es die russische Doktrin vorsieht oder nicht. Das ist viel schwerer zu beurteilen.
Das bisherige Kampfgeschehen in der Ukraine ist demgegenüber nichtssagend. Und auch das Können der Berufssoldaten oder Eliteeinheiten (VDV) ist anscheinend wie früher nicht abweichend von dem was querschnittlich die ganz normalen Wehrpflichtigen / Reservisten so leisten können.
Das hat noch eine Implikation für die Frage der Mobilmachung: Russische Einheiten können wesentlich schneller mobilisiert werden als westliche Einheiten, weil sie viel eher einfach so ins Gefecht geworfen werden können, weil sie explizit darauf hin spezialisiert sind (nach theoretischer russischer Doktrin). Eine russische Mobilmachung würde also sehr viel schneller als man dies hier immer annimmt erhebliche Truppenmassen in Bewegung setzen, die brauchen dafür eben nicht so lange wie wir.
ABER: die Frage ist, ob das auf dem modernen Schlachtfeld eben überhaupt noch zeitgemäß ist. Ganz genau so wie man im Westen die reale tatsächliche Auswirkung von höherer Technologie auf den Kriegsverlauf überschätzt, so überschätzt man in Russland heillos die Auswirkung von höherer Quantität auf denselben!
Viel wesentlicher ist die Frage, wie man die Truppen einsetzt, ob sie nach einem modernen System kämpfen, wie die Kampfmoral und die Eigeninitiative sind, wie befähigt man handwerklich ist, wie befähigt man auf der taktischen und strategischen Ebene ist. Die Russen sind in der Kriegs
kunst unterlegen, völlig gleich ob sie Mobil machen oder nicht. Darauf kommt es an!