Der Reihe nach:
Ottone:
Vielen Dank für deinen Hinweis, ich habe das missverständlich formuliert. Ich meinte nicht das physische Überlegen aller Russen in Russland, sondern nur ganz konkret das physische Überlegen der jetzigen Spitzen der Regierung bzw. der Spitzen der aktuellen Eliten. Und diese Eliten weisen meiner Ansicht nach eine gewisse Janusköpfigkeit auf. Es geht ihnen einerseits (angeblich) um die Nation und das ist in Teilen auch durchaus ernst gemeint, andererseits zeigt ihr ganzes Handeln eindeutig auf, wie sehr es ihnen nur um die Selbstbereicherung und rein persönliche Vorteile geht. Und beides wird nicht als Widerspruch empfunden, es ist im Endeffekt eine schizophrene Haltung. Vor die Wahl gestellt selbst unterzugehen oder Russland zu riskieren, werden sie sich meiner Meinung nach für das Risiko für die ganze Nation entscheiden.
Werter Nightwatch:
Zitat:Ein Eingreifen der Nato könnte sogar ein Ausweg für Putin aus einem ansonsten festgefahrenen Konflikt mit der Ukraine sein. Es liese sich leichter verkaufen, dass er den Konflikt aufgrund des Eingreifens des übermächtigen Westens hat beenden müssen als zuzugeben, dass die glorreiche russische Armee nicht mal mit ein paar Nazis in der Ukraine fertig wird.
Ein wirklich interessanter Gedanke! Das könnte funktionieren, wenn man das entsprechend mittels Geheimdiplomatie auf höchster Ebene mit den Russen abspricht. So kann die russische Führung sich dann sogar als der Friedensbewegtere darstellen, alle Schuld aufs Ausland abwälzen und sich innenpolitisch vielleicht sogar wieder stabilisieren.
Aber: meiner Meinung nach unterschätzt du in diesem Kontext das irrationale Element der aktuellen russischen Politik, welches sich aus der schon angesprochenen schizophrenen Grundhaltung heraus ergibt. Denn wenn das aktuelle russische Regime auch nur ansatzweise zu solchem Denken fähig wäre, dann hätte es die Ukraine so nicht angegriffen wie es das jetzt tut. Meiner Ansicht nach kann man von realen Taten durchaus auf zukünftige Verhaltensweisen rückschließen und da muss ich für mich feststellen, dass die russische Politik keinem rationalen Muster mehr folgt.
Zitat:Wo ziehst du denn die Linie? Was ist am EU/NATO Grenzen so magisch anders, als das wir auf der einen Seite der Vernichtung der Staatlichkeit der Ukraine zusehen und gleichzeitig jeden Quadratzentimeter europäische Nato-Erde bis zum letzten Blutstropfen verteidigen wollen?
Der Unterschied ist: das eine ist unser Bündnis, dessen Aufrechterhaltung für uns einen immensen Wert hat, das andere ist ein beliebiger Staat der für uns den gleichen Wert hat wie der Irak oder sonst so ein völlig bedeutungsloses Stück Land. Der Wert der Ukraine für uns ergibt sich allenfalls darin, dass dort die Russen so erheblich geschwächt und gebunden werden, dass sie als Bedrohung für unser Bündnis deutlich reduziert werden. Einen darüber hinausgehenden Wert hat die Ukraine nicht.
Zitat:Was machen wir denn wenn Putin im Baltikum nicht so plump vorgeht wie in der Ukraine? Wenn er über Jahre die russischsprachige Bevölkerung dort anstachelt, Provokateure und Akteure einschleust und irgendwann einfach die kleinen grünen Männchen da sind und ganz bestimmt nur in den russisch geprägten Gebieten jetzt halt für Ordnung sorgen?
Auf spezifisch dieses Szenario habe ich selbst seit Jahren hingewiesen: dass ein Krieg im Baltikum vollständig anders ablaufen könnte als dies in der NATO und der Bundeswehr üblicherweise skizziert wird. Und dass man deshalb im Baltikum andere Wehrstrukturen benötigt, welche wir bezahlen könnten und sollten.
Das Baltikum kann verteidigt werden, sowohl im konventionellen Bereich, wie auch gegen solche unkonventionellen Methoden, und zwar mit der gleichen Wehrstruktur. Das führt aber jetzt im Detail hier zu weit weg. Was wir also machen müssten, damit Putin nicht im Baltikum elegant vorgeht ist: sich hier und jetzt exakt darauf vorzubereiten und zwar auf eine weitgehend unkonventionelle Art und Weise.
Zitat:Putin sieht in bestimmten Szenarien womöglich sein persönliches Ende. Schön und gut. Ein umfassender Atomkrieg wird dieses Ende in keinem Fall verhindern sondern im Gegenteil besiegeln. Gleichzeitig setzt er mit der nuklearen Eskalation im Maximum halt nicht nur sein persönliches Schicksal sondern das der ganzen russischen Nation aufs Spiel. Warum sollte er das wollen?
Weil das meiner Meinung nach seinem Charakter und seinen persönlichen Zielen und Vorstellungen entspricht. Meiner Überzeugung nach ergibt sich das irrationale Element aus einer zutiefst janusköpfigen Grundhaltung.
Helios:
Zitat:Rot muss erkennen, dass es den Krieg auf konventionelle Weise nicht gewinnen kann. Die sich daraus ergebenen Handlungsmöglichkeiten habe ich dargelegt, habe ich etwas übersehen oder vergessen?
Ja, beispielsweise dass Rot dies nicht erkennen kann, selbst wenn dem so wäre. Noch mal abgesehen davon, dass Rot den konventionellen Krieg in jedem Fall gewinnen wird.
Zitat:Natürlich wäre es für uns militärisch und geopolitisch (nicht unbedingt wirtschaftlich, aber das können andere besser einschätzen) besser, wenn sich der Krieg in der Ukraine langfristig als Guerillakrieg halten würde, und losgelöst von moralischen Betrachtungen könnte man daraus sogar ableiten, dass dies unser Ziel sein sollte.
EXAKT das meinte ich ! Exakt das muss unser Ziel sein und entsprechend muss man jetzt gezielt die Weichen stellen und eine Flugverbotszone über Ukraine als Reaktion auf irgendwelche russischen "Greueltaten" führt eben nicht möglichst zeitnah in den Guerillakrieg. Insgesamt wäre es im Moment sogar besser, wenn die Ukrainer den konventionellen Kampf zurückfahren und nur noch vorübergehend als Verzögerung führen würden bis alle noch bestehenden Armeeeinheiten sich im zivilen Element verborgen haben. Halten kann man dann noch den Südwesten mit den Karparten (relativ problemlos) und im Rest des Landes steigt man auf eine allgemeine Guerilla um.
Das reduziert zugleich erheblich die Kriegsschäden und schadet dem Feind dennoch ganz genau so wie der heroische aber völlig sinnlose aktuelle konventionelle Widerstand.
Zitat:Das wäre aber nicht im Interesse von Russland, warum sollten die sich also auf ein solches langgezogenes Ausbluten einlassen, wenn es andere realistische Optionen gibt?
Deshalb darf man Russland gar keine andere Option lassen und genau deshalb keine Flugverbotszone, weil exakt das eine solche andere Option ist. Wir haben hier und jetzt die Chance Russland in ein solches langgezogenes Ausbluten hinein zu ziehen, ohne dass die russische Führung dies verhindern könnte.
Deshalb kulminiert meine Betrachtung in der Frage, welche Handlungsmöglichkeiten wir haben, wenn Rot die Situation sehr deutlich weiter eskalieren lässt (nehmen wir einfach als Extremfall die Verwendung von taktischen Atomwaffen, um die Ukraine zu einem Verhandlungsfrieden zu eigenen Konditionen zu bomben)?
Die Frage an sich ist aber falsch, wenn man entsprechende Handlungsmöglichkeiten gezielt wegnimmt. Ein Beispiel: was sollten Schläge mit taktischen Atomwaffen gegen eine Guerilla bringen ?
Zitat:Die Notwendigkeit, einen Atomkrieg für die Ukraine zu riskieren, ergibt sich nicht aus irgendeiner moralischen Verpflichtung, sondern aus der Notwendigkeit eine klare Grenze der real einsetzbaren Mittel aufzuzeigen.
Es gibt für Rot aber diese klare Grenze nicht. Rot kann und wird nicht wahrnehmen, dass hier eine Grenze ist und wird diese Mittel einsetzen oder nicht, völlig unabhängig von unseren Reaktionen, die von Rot schon gar nicht mehr verstanden werden. Es gibt für Rot hier keine klare Grenze real einsetzbarer Mittel: den selbst wenn wir darauf irgendeine
Reaktion zeigen würden, stünde dieser vor dieser die Aktion von Rot. Die zwingende Schlußfolgerung daraus ist für mich, dass man die Umstände insgesamt verändern muss:
Also Guerillakrieg statt konventionellem Krieg.
Zitat:Letztlich ist das nichts anderes, als Rot es aktuell umgekehrt macht
Das aber die aktuelle Politik von Rot gelinde gesagt falsch ist, darüber sind wir uns einig? Wieso sollten wir also eine von Grund auf falsche Politik imitieren?
Zitat:Die Kombination aus Handlungsoptionen mit direkt verknüpften Bedingungen, also klare "Rote Linien" und eine nachdrückliche Willenserklärung, diese zu halten, verschließt keine Alternativen für Putin, es schränkt lediglich den Verhandlungsrahmen für politische Lösungen ein. Insofern läuft es keineswegs auf Sieg oder Tod hinaus, und kommunizierbar gegenüber dem eigenen Volk wäre es durchaus.
Wenn wir vorher erklären: wenn Rot Handlung A vornimmt, ergibt sich daraus zwingend folgende Handlung B, und Rot führt trotzdem die Handlung A aus (was ich für wahrscheinlich halte), werden wir dann die Handlung B trotzdem durchführen, auch wenn diese dann ebenso zwingend die Handlung C verursacht welche Rot nun vorher ankündigt? Den die exakt gleiche Logik, welche wir hier anwenden sollen: schlußendlich also eine Nötigung des anderen durch die Androhung einer bestimmten Handlung, kann Rot dann ganz genau so anwenden. Und meiner rein privaten Einschätzung des Charakters von Putin und seiner direkten Umgebung nach halte ich das für wahrscheinlicher, als das diese Gruppe sich in deinem Sinne verhalten wird.
Aus russischer Sicht gibt es zur Zeit keine klaren roten Linien. Man sieht sich gerade eben nicht eingeschränkt.
Ich verstehe daher durchaus deine Intention, solche klaren roten Linien zu kommunizieren, damit sich Rot im weiteren eingeschränkt sieht um genau diesen Missstand zu beseitigen. Deine Intention ist mir also schon klar und als bloße Zielsetzung teile ich sie auch. Aber ich halte sie in Bezug auf die Ukraine für undurchführbar und für zu risikoreich.
Wenn die Kommunikation, die Klarmachung wo rote Linien sind derartige Risiken birgt, andererseits das Setzen solcher roter Linien und dass der Feind diese auch wahrnimmt erforderlich ist, dann ist die gesamte Situation derart nachteilig, dass meiner Überzeugung nach es die bessere Lösung wäre einfach die gesamte Situation an sich zu ändern, also einen Bruch herbei zu führen, der beide Seiten durch veränderte Umstände aus dieser Problematik heraus führt.
Zitat:Ich kann genauso wenig in die Zukunft sehen, und viele Variablen sind nur sehr bedingt vorherseh- oder auch nur kalkulierbar. Aber darum diskutieren wir doch hier, oder?
So ist es. Auch mal eine amüsante Position, dass ich jetzt hier der zurückhaltendere und vorsichtigere bin.