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Normale Version: Russland vs. Ukraine
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Mal eben ungestraft zwei Tage Heimaturlaub machen...

Zitat:Ukrainisches Parlament milderte zuletzt die Strafen für Armee-Rückkehrer
Fest steht jedoch, dass es der ukrainischen Armee aktuell an Streitkräften mangelt. Das Parlament in der Ukraine hatte Anfang des Monats einen Gesetzesentwurf angenommen, der die Strafen für Deserteure mildert, damit die Hemmschwelle für sie gesenkt wird, zur Armee zurückkehren. Demnach sollen Deserteure, die ihre Militäreinheit unerlaubt verlassen haben, nicht mehr sofort bestraft werden. Stattdessen wird den Fahnenflüchtigen 72 Stunden Zeit gegeben, um zur Truppe zurückzukommen. Falls die Soldaten dem Folge leisten, werden sie mit keinerlei Sanktionen belegt; Gehälter und anderweitige Leistungen dürfen sie dann ebenfalls wieder in Anspruch nehmen. Die Berliner Zeitung berichtete.

https://www.berliner-zeitung.de/news/ukr...li.2267373
Die Ukraine Trifft Tschetschenien Zum Ersten Mal Mit Langstreckendrohnen

https://www.yahoo.com/news/ukraine-strik...48386.html


Interview eines Tschetschenen, der auf der Seite der Ukraine kämpft. Die Einleitung ist auf Französisch, aber das Interview ist auf Englisch

https://m.youtube.com/watch?v=Js-LfArZUF...p=2AEBkAIB
Im Oktober veröffentlichte der Internationale Währungsfonds die neueste Ausgabe seines Weltwirtschaftlichen Ausblicks. Man erwartet das die russische Wirtschaft in diesem Jahr um 3,6 Prozent wachsen wird.
Eine Wachstumsrate von 3,6 Prozent im Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2023 positionierte beispielsweise Russland als eine der am schnellsten wachsenden Großwirtschaften der Welt außerhalb von Indien und China.

https://internationalbanker.com/finance/...utperform/

Indische Unternehmen im Visier von US-Sanktionen


https://www.deccanherald.com/world/india...ia-3257426
Zitat:Man erwartet das die russische Wirtschaft in diesem Jahr um 3,6 Prozent wachsen wird.
Eine Wachstumsrate von 3,6 Prozent im Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2023 positionierte beispielsweise Russland als eine der am schnellsten wachsenden Großwirtschaften der Welt außerhalb von Indien und China...
Das überrascht mich dann doch etwas. Ich wäre eigentlich angesichts der massiv aufgeheizten Rüstungsindustrie - die mittlerweile wohl irgendwo zwischen 20% und 25% des BIP ausmacht - von einem Wachstum von über 5% ausgegangen. Aber offenkundig reicht selbst dieser grotesk aufgeblähte Wehretat nicht aus, um das (Schein-)Wachstum weiterführend zu generieren. Eine Ursache könnte sein, dass die russische Rüstung eben nicht mehr für den Export produziert, sondern für die "heimische Nutzung" bzw. weil man die Gerätschaften selbst benötigt. Der deutliche Rückgang in den Rüstungsexporten (Indien 2012: 3,8 Mrd. Dollar, aktuell: 1,1 Mrd. Dollar; China 2018: 1,8 Mrd. Dollar, aktuell: 0,7 Mrd. Dollar; sonstige Länder weltweit 2011: 4,5 Mrd. Dollar, aktuell: 0,7 Mrd. Dollar) spiegelt dies auch wieder.

Nur während man mit Exporten eben noch Geld ins Land holen kann, kann man dies mit dem Nutzen der Rüstungsgüter selbst nicht erreichen. Und das russische BIP, das von knapp 2.300 Mrd. Dollar (2022) auf knapp 2.000 Mrd. Dollar 2023 einbrach, erholt sich dadurch nur sehr langsam - aktuell liegt es wohl bei 2.050 Mrd. Dollar. ABER: Diese "Erholung" kommt nur durch die massive Aufblähung der Rüstungsindustrie zustande, die ein Fass ohne Boden ist bzw. keine Werte schafft. Es ist folglich eine Scheinerholung. Würde man also die künstlich befeuerte Rüstungsindustrie herausrechnen, dann läge das russische BIP wohl deutlich unter 2.000 Mrd. Dollar (vermutlich 1.700 Mrd. oder weniger?).

In gewisser Weise muss der Kreml also diese Rüstungsblase aufrechterhalten. Einerseits natürlich aus propagandistischen Gründen, andererseits aber auch schlicht deswegen, weil bei einem plötzlichen Frieden und einem Abstellen des Rüstungsmotors der wirtschaftliche (Ab-)Sturz ins kalte Wasser erfolgen würde. Und ob die Russen es Putin und seiner Kamarilla verzeihen würden, dass sie sie nicht nur in einen Krieg mit hunderttausenden Opfern getrieben haben, sondern wenn sie sie danach auch noch in Armut stürzen würden, muss man durchaus hinterfragen? Das könnte das labile innenpolitische Gerüst, man denke auch an Veteranen des Ukrainekrieges, wenn diese die Armut zuhause dann sehen, durchaus ins Wanken bringen. Insofern gibt es auch noch ein rein innenpolitisches Kalkül in Moskau, die Rüstung weiter zu befeuern.

Es ist aber fast wie bei ein Kater - man trinkt dagegen an, aber der Entzug wird am Ende nur umso schlimmer.

Schneemann
Google Earth hat Bildmaterial für Ukraine aktualisiert . In Zhulyany und weiter um Kiew sind Patriot stellungen zu sehen derzeit . In Kiew sind mehr als zehn flugabwehrstellungen zu erkennen. Auch stellungssysteme sind deutlich erkennbar
Ein interessanter Gedanke in Bezug auf die Ungleichgewichte der russischen Wirtschaft ist es, dass die Russen ihre militärische Stärke nach einem wie auch immer gearteten Ende der Kämpfe in der Ukraine dazu benutzen, in Zentralasien einzumarschieren und die Länder dort zu kassieren - Turkmenistan, Kasachstan usw. um damit die dort befindlichen Rohstoffe zu erbeuten und mit den Sondergewinnen aus diesen und der Ausplünderung dieser Länder dann die russische Bevölkerung selbst weiter bei Laune zu halten.
(03.11.2024, 21:04)Quintus Fabius schrieb: [ -> ]Ein interessanter Gedanke in Bezug auf die Ungleichgewichte der russischen Wirtschaft ist es, dass die Russen ihre militärische Stärke nach einem wie auch immer gearteten Ende der Kämpfe in der Ukraine dazu benutzen, in Zentralasien einzumarschieren und die Länder dort zu kassieren - Turkmenistan, Kasachstan usw. um damit die dort befindlichen Rohstoffe zu erbeuten und mit den Sondergewinnen aus diesen und der Ausplünderung dieser Länder dann die russische Bevölkerung selbst weiter bei Laune zu halten.

Ich glaube eher nicht dass Rußland nach der Ukraine einen GUS-Staat besetzen wird. Meines Erachtens gäbe es danach nur ein logisches Ziel für Rußland und zwar Aserbaidschan. Einerseits dürfte es ein relativ leichter Krieg für Rußland werden, quasi mit Sieggarantie und andererseits könnte der EU damit weiter geschadet werden, indem man einen wachsenden Gaslieferanten vom Markt nehmen würde. Einige Teile Aserbaidschans könnte Rußland dann Armenien und dem Iran anbieten, was die politische Stimmung in Armenien vermutlich wieder in Richtung Rußland neigen würde. Hinzu kommt dass Rußland dann eine direkte Landverbindung zu seinem Verbündeten Iran hätte.
Der "Zusammenbruch":

[Bild: IMG-20241103-095645-809.jpg]

Es ist schon bemerkenswert, wie man mit einer reißerisch formulierten Schlagzeile die Wahrnehmung ganzer Gesellschaften und Regierungen verzerren kann.
In deutschen Medien wird ja immer wieder gefragt: Wann protestieren die Russen endlich, warum nehmen die das alles hin? 250 Tote und mehr pro Tag?

Die Antwort lautet: Solange es keine allgemeine Mobilmachung gibt und nicht junge Russen aus jeder Region und jeder Bevölkerungsschicht in den Krieg ziehen müssen, wird es keine größeren Proteste geben.

Derzeit verheizt Russland nur seine "Deplorables", um den Ausdruck von Hillary Clinton zu borgen. Der Duma-Abgeordnete und vormalige Führer der "Volksrepublik" Donetsk, Alexander Borodai, hat das in einem Podcast offen zugegeben:
Zitat:Als Infanterie sind sie Resteware. Ihre Aufgabe ist nur, die Front zu halten, die Aufmerksamkeit des Gegners auf sich zu ziehen und seine Kräfte zu erschöpfen, während sich andere Einheiten im Hintergrund auf die Offensive vorbereiten. Sie sollen sie einfach zermürben, verstehst Du? Niemand erwartet, dass diese Truppen einen nennenswerten (oder auch nur einen kleinen) Sieg erringen. Sie sind bloß Kanonenfutter.​

Und so denken nicht nur die Generäle, weißt Du? Alle denken so, auch die einfachen Offiziere, auch die zivilen Anzugträger. Sie schauen sich de soziale Zusammensetzung dieser Freiwilligen an und fragen: "Was sind das für welche?"​

Eigentlich sind es Landsknechte. Söldner für Geld. Und ja, viele von denen wollen kämpfen. Aber, du musst verstehen: Im zivilen Leben würden die überhaupt kein Geld verdienen, vielleicht ₽20.000, ₽30.000 oder höchstens ₽40.000 im Jahr.​

Hier verdienen sie ₽220.000, ₽250.000, ₽260.000 oder mehr. Geld, das sie sonst nie sehen würden. Und das ist eine Win-Win-Situation. Sie werden gekauft wie Frischfleisch. Aus Sicht der Anzugträger stellen diese Leute keinen sozialen Wert dar. Warum wohl? Sie sind oft schon etwas älter, richtig? Sie sind keine produktiven Mitglieder der Gesellschaft. Keiner von denen wird mal ein erfolgreicher Wissenschaftler werden.​

Die Infanterie besteht aus Leuten, die nicht als besonders wertvoll angesehen sind. Oder überhaupt als wertvoll. Soziologisch gesehen, sind sie schon heterogen – manche sind natürlich Enthusiasten, es geht ihnen um Ehre, Gewissen und so weiter –, aber wer macht die Masse aus? Es sind Zivilversager. Also, Maxim Gorki hatte ein Wort dafür, das heute verschiedentlich genutzt wird: "Überschüssige."
(Quelle)

Und deswegen vermeidet Putin die Mobilmachung wie der Teufel das Weihwasser.
(04.11.2024, 23:40)muck schrieb: [ -> ]Derzeit verheizt Russland nur seine "Deplorables", um den Ausdruck von Hillary Clinton zu borgen. Der Duma-Abgeordnete und vormalige Führer der "Volksrepublik" Donetsk, Alexander Borodai, hat das in einem Podcast offen zugegeben: (Quelle)

Man könnte fast meinen, es handele sich um ein riesiges russisches Eugenik-Projekt, und der Krieg mit der Ukraine diene nur zur "Entsorgung" der "Deplorables".
Die russische Armee insgesamt, also nicht nur die Infanterie, sondern die gesamte Armee hat in der russischen Gesellschaft ein sehr niedriges Ansehen. Auch die Offiziere gelten als querschnittlich minderwertige Menschen die entbehrbar sind und entsprechend rekrutiert sich die gesamte Armee aus sozial schlechter angesehenen Kreisen der Gesellschaft.

Russland ist auch kein Militärstaat, auch wenn das selbst nach Innen von der Propaganda so dargestellt wird, es ist ein Polizei- und Geheimdienststaat, genau genommen ein Geheimpolizeistaat. Das ist die wahre Natur der RF. Die Armee hingegen ist entgegen aller Propaganda für Russen ein bloßes Instrument. Man muss hier klar unterscheiden zwischen dem was nach außen kommuniziert wird und dem was dahinter mehrheitlich in dieser Gesellschaft die tatsächliche Sichtweise ist. Die Russen sind in ganz vielen Bereichen in einem solchen Zwiedenken gefangen, in welchem sie das eine reden und das andere meinen und nicht mal den Widerspruch darin als Problem sehen.

Das hat zwei Folgen: zum einen ist Russland in der Lage Kriege selbst dann noch weiter zu führen, wenn jeder andere Staat längst nicht mehr kriegsfähig wäre und selbst bizarre Verluste einfach wegzustecken als wäre es nichts. Andererseits erzeugt diese Grundhaltung gerade eben ständig eine schlechte Qualität der Armee und hat ein geringes handwerkliches militärisches Können zur Folge. Es ist also eine Stärke und diese zugleich die entscheidende Schwäche der russischen Streitkräfte, gerade und insbesondere in jedem modernen Krieg in welchem Technologie und Industrielle Produktion wesentlich sind.

Aus dem gleichen Grund sind die Russen in Sachen COIN / Unterdrückung usw. hervorragend, weil die gleichen für den modernen konventionellen Krieg negativen Eigenschaften in dieser mehr von Primitivität geprägten Form der Kriegsführung mehr Vorteile als Nachteile zur Folge haben, dazu kommt noch die wahre Natur als Staat der Geheimpolizei (russische Geheimdienste sind beispielsweise oft mehr Polizeiartig als andere Geheimdienste usw). Das mit der völligen Ignoranz gegenüber Verlusten führt dazu, dass Russen gegenüber Guerillas ausgesucht erfolgreich sind, während sie gegen moderne konventionelle Gegner erhebliche Probleme haben.

Das archaisch-atavistische der russischen Sozialkultur und Gesellschaft - welches aktuell immer weitergehend dort durchschlägt - ist also militärisch Fluch und Segen zugleich. Das war kriegsgeschichtlich schon immer so. Wenn russische Armeen sehr fähige Führer haben, sind sie äußerst leistungsfähig und oft jedem Gegner überlegen. Umgekehrt schlägt eine schlechte Führung in Russland nochmals viel stärker durch als in anderen Ländern.

Die aktuelle Mafia-Kamarilla im Kreml aber hat systematisch seit Jahrzehnten aus innenpolitischen Erwägungen und zum eigenen Machterhalt die militärische Führung degradiert. Das reichte hin bis zur systematischen Ausschaltung und sogar Ermordung populär werdender höherer militärischer Führer und damit meine ich nicht Prigoshin, dass fing schon in Tschetschenien an. Man will seitens der Mafia-Kamarilla gar keine fähige militärische Führung, aber das Resultat dieser Zielsetzung schädigt halt die Leistungsfähigkeit der russischen Armee immens, viel mehr als dies bei anderen Streitkräften der Fall wäre. Gerade eben weil die Qualität der Soldaten für einem modernen konventionellen Krieg so gering ist.
Oberst Reisner zur aktuellen zweiten russischen Sommeroffensive:

https://www.youtube.com/watch?v=HLRJZHB6WHU

In diesem Kontext:

muck:

Zitat:Der "Zusammenbruch":....Graphik über die Frage wieviel Prozent der Ukraine besetzt sind....Es ist schon bemerkenswert, wie man mit einer reißerisch formulierten Schlagzeile die Wahrnehmung ganzer Gesellschaften und Regierungen verzerren kann.

Das Problem ist meiner schon mehrfach wiederholten Ansicht nach, dass dieser Krieg von allen Seiten viel zu sehr von der Frage von Geländegewinnen und der Besetzung von Territorium aus betrachtet wird. Dabei ist dies als Faktor wenig relevant.

Es spielt also gar keine Rolle ob die Russen voran kommen und selbst wenn sie deutlich größere Geländegewinne hätten, wäre auch dies nicht wichtig. Selbst wenn die Russen rein theoretisch am Jahresende vor Kiew stehen würden und Odessa fällt, wäre dies immer noch nicht entscheidend - weil der Besitz und die Kontrolle von Gelände hier nicht der primäre Parameter sind, sondern allein das Verlustverhältnis, die Abnutzung der Waffensysteme und wieviel Nachschub die jeweilige Seite erhält.

Wenn das Verlustverhältnis noch deutlicher zugunsten der Ukraine wäre, würde Russland selbst dann wenn es nach Kiew durchbricht einen reinen Phyrrus-Sieg errungen haben, und dem folgend militärisch kollabieren. Umgekehrt das gleiche. Auch wenn die Ukraine alle russischen Truppen auf die früheren Landesgrenzen zurück treibt, so wäre dies kein Sieg wenn das Verlustverhältnis ungünstig wäre.

Die Wahrnehmung dieses Krieges ist daher meiner Meinung nach nicht allein durch solche reißerischen Schlagzeilen verzerrt, sondern durch grundsätzlich falsche Vorstellungen und falsche Annahmen über die Natur dieses Krieges und was in diesem relevant ist. Man stellt sich auch ohne solche Schlagzeigen vor, dass die Eroberung von Territorium ein Gradmesser für Erfolg ist. Nichts könnte in diesem Krieg falscher sein, sie ist es gerade eben nicht.
(05.11.2024, 11:25)Quintus Fabius schrieb: [ -> ]Die russische Armee insgesamt, also nicht nur die Infanterie, sondern die gesamte Armee hat in der russischen Gesellschaft ein sehr niedriges Ansehen. Auch die Offiziere gelten als querschnittlich minderwertige Menschen die entbehrbar sind und entsprechend rekrutiert sich die gesamte Armee aus sozial schlechter angesehenen Kreisen der Gesellschaft.

Russland ist auch kein Militärstaat, auch wenn das selbst nach Innen von der Propaganda so dargestellt wird, es ist ein Polizei- und Geheimdienststaat, genau genommen ein Geheimpolizeistaat. […]
Ich würde das ein bisschen anders formulieren. Du hast meiner Meinung nach zwar insgesamt Recht, doch scheinst Du mir den Militarismus, der sich unter Putin in den letzten zehn Jahren herausgebildet hat, noch zu unterschätzen.

Es gibt viele Russen, die zwar die Armee geringschätzen, aber ihre Angehörigen wertschätzen.
Und es gibt viele Russen, die zwar die Soldaten geringschätzen, doch die Armee glorifizieren.

Betrachtet man die politisch maßgeblichen Russen, das heißt, die Erwachsenen der Mittel- und Oberschicht (und insbesondere die noch in der Sowjetunion geborenen Entscheidungsträger), ergibt sich meines Erachtens folgendes Bild:

Die Armee hatte in Russland lange ein schlechtes Ansehen, weil sie in Afghanistan und Tschetschenien faktisch besiegt wurde, den Zusammenbruch der Sowjetunion nicht verhindern konnte und die Zustände in der Armee (marodes Material, Kriminalität, Dedowschtschina) durch die Wehrpflicht allgemein bekannt waren. Dass der Westen die Föderation ein Vierteljahrhundert lang als militärischen Zwerg ansah und eher fürchtete, der russischen Armee könnten Atombomben geklaut werden, als dass sie mit Atombomben werfen könnte, tat das Übrige.

Der Sieg über Georgien und der von Russland für sich reklamierte Sieg über den IS in Syrien – nach russischer Lesart war der IS ein Proxy der USA – führte aber vor allem bei den Jüngeren zu einem Mentalitätswandel. Die Armee ist plötzlich schick, Syrien-Veteranen werden als Helden herumgereicht, es werden massenweise Kriegsfilme gedreht, und in der Schulhofhierarchie kannst du nicht mehr nur durch iPhones oder sexuelle Erfahrung punkten, sondern auch dadurch, dass du einen Ukraine-Kämpfer in der Familie hast.

Bemerkenswert ist auch, wie die Russen mit den Misserfolgen der Armee in der Ukraine umgehen. Die stören sie nämlich kaum. Der weitgehend reine Wein, den die Z-Blogger den Leuten einschenken, hat auf ihre Haltung zur Armee (und zu diesem Krieg) meiner Wahrnehmung nach keinen nennenswerten Einfluss; und die Regierungspropaganda (der ohnehin viele Russen misstrauen, was insgesamt aber nichts ändert) ist gar nicht mal so sehr gefordert, die Dinge schönzureden, wie man meinen könnte.

Dass Russland die Ukraine hätte erobern können, wenn es gewollt hätte, sich 2022 aber aus "humanitären Gründen" aus Kiew zurückzog, ist nichts, was sich irgendein Kreml-Propagandist ausgedacht hätte. Das kam ebenso aus der Mitte der Bevölkerung wie das Narrativ, dass Russland in der Ukraine gegen die gesamte NATO kämpft und nur deshalb nicht vorankommt. (Man muss sich vor Augen halten: Beide Behauptungen widersprechen der Linie und dem Ansehen des Regimes, der Kreml konnte sie also kaum lancieren wollen.)

Heutzutage nennt man das wohl "Copium".
(05.11.2024, 11:25)Quintus Fabius schrieb: [ -> ]Aus dem gleichen Grund sind die Russen in Sachen COIN / Unterdrückung usw. hervorragend, weil die gleichen für den modernen konventionellen Krieg negativen Eigenschaften in dieser mehr von Primitivität geprägten Form der Kriegsführung mehr Vorteile als Nachteile zur Folge haben, dazu kommt noch die wahre Natur als Staat der Geheimpolizei (russische Geheimdienste sind beispielsweise oft mehr Polizeiartig als andere Geheimdienste usw). Das mit der völligen Ignoranz gegenüber Verlusten führt dazu, dass Russen gegenüber Guerillas ausgesucht erfolgreich sind, während sie gegen moderne konventionelle Gegner erhebliche Probleme haben.
Aber sind sie das denn: erfolgreich im Bereich Counter Insurgency?

In Afghanistan haben sie sich eine blutige Nase geholt, in Tschetschenien in der ersten Runde ebenfalls (die zweite Runde haben sie eher politisch als militärisch für sich entschieden, Stichwort divide et impera). Den IS hätte jeder schlagen können, der in Syrien "boots on the ground" bringt; der große militärische Fehler dieser Organisation war, sich für eine echte Armee zu halten und wie eine solche aufzutreten, den größten Vorteil verspielend, denn z.B. die Taliban besaßen.
(05.11.2024, 11:25)Quintus Fabius schrieb: [ -> ]Das Problem ist meiner schon mehrfach wiederholten Ansicht nach, dass dieser Krieg von allen Seiten viel zu sehr von der Frage von Geländegewinnen und der Besetzung von Territorium aus betrachtet wird. Dabei ist dies als Faktor wenig relevant- […]
Insgesamt hast Du sicher Recht, wobei ich modifizierend einschieben würde: Es kommt nicht darauf an, wie viel Gebiet erobert wird, sondern welches, v.a. hinsichtlich seiner Rolle in der militärischen Topographie, der potentiellen Wirtschaftskraft und der propagandistischen Bedeutung.

Dass Bodengewinne in der deutschen Berichterstattung dennoch eine solche Rolle spielen, hat meines Erachtens drei Ursachen:

Erstens, die Bundesregierung hat es versäumt, ihre Ziele klar zu definieren, deswegen wird von den Befürwortern und Gegnern ihres Kurses alles hergenommen, was irgend als Gradmesser für Erfolg oder Misserfolg dienen könnte.

Zweitens, die Deutschen haben keine Ahnung von der Ukraine. Sie haben insbesondere keine Ahnung davon, wie groß die Ukraine wirklich ist. In Deutschland könnte der Verlust von 480 km² Territorium den Verlust eines kompletten Bundeslandes bedeuten – in der Ukraine gibt es landwirtschaftliche Betriebe, die größer sind.

Drittens leben wir in einem Land, das es verlernt hat, materielle und ideelle Werte in Menschenleben aufzuwiegen. Das ist sicherlich ein humanitärer Fortschritt, zumal vor dem Hintergrund unserer Geschichte, erschwert aber rationale militärische Erwägungen.
Neu veröffentlichte Dokumente aus den ersten Wochen der Invasion enthüllen Putins Pläne, die Nachkriegs-Ukraine machtlos zu machen

https://meduza.io/en/feature/2024/11/04/...ar-ukraine
Was die "Demilitarisierung" anlangt; vielleicht stünde am Ende nicht die kolportierte Zahl von 50.000 unterm Strich, aber jedenfalls würde Russland eine massive Reduzierung des Personal- und v.a. des Materialbestands der ukrainischen Streitkräfte verlangen. Das wird nicht verhandelbar sein (und ich glaube nicht, dass man z.B. in Berlin irgendeinen Plan B für diesen Fall in der Schublade hat), denn betrachtet man die geopolitische Situation nüchtern, erweist sich das als unabdingbare Voraussetzung für die russische Position:

Erstens hat man dem eigenen Volk die Ukraine als militärische Bedrohung präsentiert. Man kann also aus Prestige- und Glaubwürdigkeitsgründen keine starke ukrainische Armee dulden. Es würde wirken, als hätte man vergebens gekämpft.

Zweitens ist die Eroberung der Restukraine schon rhetorisch vorbereitet, Medwedew und Patruschew senior haben sie bereits als Staatsziel ausgerufen, und auch Putin kommt von seiner Palme nicht mehr herunter. Russland muss also versuchen, am Verhandlungstisch zu erreichen, was im Felde bisher kaum geklappt hat: die ukrainische Armee vor einem etwaigen Angriff entscheidend zu schwächen.

Drittens wird die Ukraine sehr wahrscheinlich territoriale Zugeständnisse machen müssen, und angesichts der innenpolitischen Lage im Land wäre es durchaus möglich, dass nach einem entsprechenden Vertrag in Kiew ein Revisionist an die Macht kommt, der nach dem Vorbild Aserbaidschans die Rückeroberung der geraubten Gebiete versucht. Warum sollte Russland eine solche Situation überhaupt erst entstehen lassen? Nach den Oktober-Umfragen wollen immer noch zwei Drittel der Ukrainer, dass der Krieg weitergeht, falls und solange es nötig ist.

Viertens zeichnet sich ab, dass die Soldaten, Veteranen und deren Familien Zugeständnisse an Russland nicht akzeptieren könnten: (Link) Derzeit umfasst die ukrainische Armee über 1,2 Mio. Soldaten, und es gibt an die 200.000 ausgemusterte Veteranen aus dem Zeitraum 2014-2022. Wenn Russland darauf dringt, einen Großteil dieser Leute zu entlassen und ihnen metaphorisch zu sagen: "Ihr habt zehn Jahre vergebens gekämpft!", ist der Ukraine eine schwere, vielleicht existenzbedrohende innenpolitische Krise gewiss. Die Milizen aus der Zeit um 2014 könnten sich erneut formieren, bürgerkriegsähnliche Zustände wären nicht undenkbar. Was für Russland vorteilhaft wäre.

Fünftens weiß Moskau, das einst dem Deutschen Reich bei der Umgehung der Bestimmungen des Vertrags von Versailles half, dass eine so kleine Armee für die Ukraine eine selbstmörderische und unannehmbare Bedingung wäre, und Kiew versuchen dürfte, die auferlegten Beschränkungen zu umgehen. Dann hätte man einen Kriegsgrund, den man der ganzen Welt präsentieren könnte.

Und deswegen wird Russland alles daran setzen, entweder militärisch oder diplomatisch die ukrainische Wehrfähigkeit zu zerschlagen.

Und ich würde sogar behaupten, dass der Punkt "Entmilitarisierung", der eigentlich nur einer von vielen im russischen Forderungskatalog ist, für Russland gleich nach der Forderung kommt, die beanspruchten Gebiete abzutreten. Umgekehrt werden die Ukrainer eher territoriale Zugeständnisse machen, als sich von Russland entwaffnen zu lassen.

Über alle anderen Punkte lässt sich wesentlich leichter verhandeln, weil die Forderungen unspezifisch genug sind, dass auch faktisch bedeutungslose Zugeständnisse als Sieg präsentiert werden können.

Irgendein schöner Passus zur russischen Sprache in der Verfassung?
Das tut der Ukraine nicht weh, und da würden wohl sogar die ärgsten Nationalisten mitmachen müssen, weil die große Mehrheit der Ukrainer ihnen lange nicht vergeben würde, die Rückkehr zum bloßen status quo ante blockiert zu haben.

Blockfreiheit?
Da könnte sich Russland mit wachsweichen Zusicherungen zufriedengeben, weil die politischen Verhältnisse zumindest in der Türkei und in Ungarn erwarten lassen, dass diese Staaten auch in zehn, zwanzig Jahren der Aufnahme der Ukraine in die NATO nicht zustimmen würden.

Aber bei den Gebieten und bei der Stärke der ukrainischen Armee gibt es keine Interpretationsspielräume.