(05.11.2024, 11:25)Quintus Fabius schrieb: [ -> ]Die russische Armee insgesamt, also nicht nur die Infanterie, sondern die gesamte Armee hat in der russischen Gesellschaft ein sehr niedriges Ansehen. Auch die Offiziere gelten als querschnittlich minderwertige Menschen die entbehrbar sind und entsprechend rekrutiert sich die gesamte Armee aus sozial schlechter angesehenen Kreisen der Gesellschaft.
Russland ist auch kein Militärstaat, auch wenn das selbst nach Innen von der Propaganda so dargestellt wird, es ist ein Polizei- und Geheimdienststaat, genau genommen ein Geheimpolizeistaat. […]
Ich würde das ein bisschen anders formulieren. Du hast meiner Meinung nach zwar insgesamt Recht, doch scheinst Du mir den Militarismus, der sich unter Putin in den letzten zehn Jahren herausgebildet hat, noch zu unterschätzen.
Es gibt viele Russen, die zwar die Armee geringschätzen, aber ihre Angehörigen wertschätzen.
Und es gibt viele Russen, die zwar die Soldaten geringschätzen, doch die Armee glorifizieren.
Betrachtet man die politisch maßgeblichen Russen, das heißt, die Erwachsenen der Mittel- und Oberschicht (und insbesondere die noch in der Sowjetunion geborenen Entscheidungsträger), ergibt sich meines Erachtens folgendes Bild:
Die Armee hatte in Russland lange ein schlechtes Ansehen, weil sie in Afghanistan und Tschetschenien faktisch besiegt wurde, den Zusammenbruch der Sowjetunion nicht verhindern konnte und die Zustände in der Armee (marodes Material, Kriminalität, Dedowschtschina) durch die Wehrpflicht allgemein bekannt waren. Dass der Westen die Föderation ein Vierteljahrhundert lang als militärischen Zwerg ansah und eher fürchtete, der russischen Armee könnten Atombomben geklaut werden, als dass sie mit Atombomben werfen könnte, tat das Übrige.
Der Sieg über Georgien und der von Russland für sich reklamierte Sieg über den IS in Syrien – nach russischer Lesart war der IS ein Proxy der USA – führte aber vor allem bei den Jüngeren zu einem Mentalitätswandel. Die Armee ist plötzlich schick, Syrien-Veteranen werden als Helden herumgereicht, es werden massenweise Kriegsfilme gedreht, und in der Schulhofhierarchie kannst du nicht mehr nur durch iPhones oder sexuelle Erfahrung punkten, sondern auch dadurch, dass du einen Ukraine-Kämpfer in der Familie hast.
Bemerkenswert ist auch, wie die Russen mit den Misserfolgen der Armee in der Ukraine umgehen. Die stören sie nämlich kaum. Der weitgehend reine Wein, den die Z-Blogger den Leuten einschenken, hat auf ihre Haltung zur Armee (und zu diesem Krieg) meiner Wahrnehmung nach keinen nennenswerten Einfluss; und die Regierungspropaganda (der ohnehin viele Russen misstrauen, was insgesamt aber nichts ändert) ist gar nicht mal so sehr gefordert, die Dinge schönzureden, wie man meinen könnte.
Dass Russland die Ukraine hätte erobern können, wenn es gewollt hätte, sich 2022 aber aus "humanitären Gründen" aus Kiew zurückzog, ist nichts, was sich irgendein Kreml-Propagandist ausgedacht hätte. Das kam ebenso aus der Mitte der Bevölkerung wie das Narrativ, dass Russland in der Ukraine gegen die gesamte NATO kämpft und nur deshalb nicht vorankommt. (Man muss sich vor Augen halten: Beide Behauptungen widersprechen der Linie und dem Ansehen des Regimes, der Kreml konnte sie also kaum lancieren wollen.)
Heutzutage nennt man das wohl "Copium".
(05.11.2024, 11:25)Quintus Fabius schrieb: [ -> ]Aus dem gleichen Grund sind die Russen in Sachen COIN / Unterdrückung usw. hervorragend, weil die gleichen für den modernen konventionellen Krieg negativen Eigenschaften in dieser mehr von Primitivität geprägten Form der Kriegsführung mehr Vorteile als Nachteile zur Folge haben, dazu kommt noch die wahre Natur als Staat der Geheimpolizei (russische Geheimdienste sind beispielsweise oft mehr Polizeiartig als andere Geheimdienste usw). Das mit der völligen Ignoranz gegenüber Verlusten führt dazu, dass Russen gegenüber Guerillas ausgesucht erfolgreich sind, während sie gegen moderne konventionelle Gegner erhebliche Probleme haben.
Aber sind sie das denn: erfolgreich im Bereich Counter Insurgency?
In Afghanistan haben sie sich eine blutige Nase geholt, in Tschetschenien in der ersten Runde ebenfalls (die zweite Runde haben sie eher politisch als militärisch für sich entschieden, Stichwort divide et impera). Den IS hätte jeder schlagen können, der in Syrien "boots on the ground" bringt; der große militärische Fehler dieser Organisation war, sich für eine echte Armee zu halten und wie eine solche aufzutreten, den größten Vorteil verspielend, denn z.B. die Taliban besaßen.
(05.11.2024, 11:25)Quintus Fabius schrieb: [ -> ]Das Problem ist meiner schon mehrfach wiederholten Ansicht nach, dass dieser Krieg von allen Seiten viel zu sehr von der Frage von Geländegewinnen und der Besetzung von Territorium aus betrachtet wird. Dabei ist dies als Faktor wenig relevant- […]
Insgesamt hast Du sicher Recht, wobei ich modifizierend einschieben würde: Es kommt nicht darauf an, wie viel Gebiet erobert wird, sondern welches, v.a. hinsichtlich seiner Rolle in der militärischen Topographie, der potentiellen Wirtschaftskraft und der propagandistischen Bedeutung.
Dass Bodengewinne in der deutschen Berichterstattung dennoch eine solche Rolle spielen, hat meines Erachtens drei Ursachen:
Erstens, die Bundesregierung hat es versäumt, ihre Ziele klar zu definieren, deswegen wird von den Befürwortern und Gegnern ihres Kurses alles hergenommen, was irgend als Gradmesser für Erfolg oder Misserfolg dienen könnte.
Zweitens, die Deutschen haben keine Ahnung von der Ukraine. Sie haben insbesondere keine Ahnung davon, wie groß die Ukraine wirklich ist. In Deutschland könnte der Verlust von 480 km² Territorium den Verlust eines kompletten Bundeslandes bedeuten – in der Ukraine gibt es landwirtschaftliche Betriebe, die größer sind.
Drittens leben wir in einem Land, das es verlernt hat, materielle und ideelle Werte in Menschenleben aufzuwiegen. Das ist sicherlich ein humanitärer Fortschritt, zumal vor dem Hintergrund unserer Geschichte, erschwert aber rationale militärische Erwägungen.