Kriegsverbrechen geschehen in der Regel aus drei Gründen (zitiert nach Knut Ipsen):
- Regierung oder Gesellschaft fordern oder fördern ihre Begehung.
- Gruppenzwang. Soldaten müssen sich ihren Kameraden gegenüber als verlässlich erweisen, ihr Überleben hängt davon ab; außerdem sind militärische Einheiten in ihren Alters- und Sozialstrukturen sehr homogen. Es ist daher v.a. in schlecht geführten Einheiten einfach für charismatische Individuen, die ganze Einheit mit amoralischem bzw. rechtswidrigem Verhalten anzustecken.
- Verrohung.
(Wobei ich 3.) nicht für sonderlich überzeugend halte. Die letzten hundert Jahre haben gezeigt, und zwar quer durch alle Staats- und Gesellschaftsformen, dass Kriegsverbrechen außer von Eliteeinheiten vor allem Unterstützungs-, Reserve- und Sicherungskräften begangen werden. Außerdem wurden speziell in der Ukraine einige der schlimmsten Massaker gleich zu Kriegsbeginn von frischen Kräften verübt.)
Wenn man mit Boris Schurmatsky davon ausgeht, dass die russische Gesellschaft ein Gewaltproblem habe, stellt sich die Frage, wie es um die ukrainische bestellt ist. Tatsächlich könnte man dann in dem unterschiedlichen Verhalten von Angehörigen beider Armeen einen weiteren Beleg gegen die Behauptung finden, dass Ukrainer bloß Russen mit anderem Pass seien. Und es gibt immerhin Anhaltspunkte in diese Richtung; z.B. ist die ukrainische Armee nach 1991 viel konsequenter gegen die Dedowschtschina vorgegangen als die russische.
Eine Rolle dürfte spielen, dass die ukrainische Gesellschaft freier und pluralistischer als die russische ist, sie ist damit weniger anfällig für brutalisierende Narrative.
Dass man auf die Unterstützung der Weltgemeinschaft angewiesen ist, wird ebenfalls disziplinierend wirken.
Dann könnte sich die tolkieneske ukrainische Regierungspropaganda positiv auswirken. Denn wer kämpft gegen "Orks"? Elben, Hobbits, Aragorn und Co. – die Guten. In vielen Verlautbarungen, sowohl offiziellen als auch Telegram-Posts aus der Schlammzone, lese ich immer wieder Beschwörungsformeln, dass die Ukrainer "die Guten" bleiben wollten. Gerade Ipsens erster Punkt entfällt im Fall der Ukraine einfach komplett; anders als in Russland, haben Regierung und Gesellschaft klargemacht, dass Kriegsverbrecher nicht in ihrem Namen handeln würden.
Ebenfalls wird sich die Zusammensetzung der ukrainischen Armee als Volksheer positiv auswirken. Zwar sagt uns die Psychologie, dass unter Stress prinzipiell jeder Mensch dazu in der Lage ist, Verbrechen zu begehen, aber es ist dann doch ein Unterschied, wenn ich in den einen Schützengraben Studenten, Automechaniker, Lehrerinnen und Anwälte stelle, die ihre Heimat verteidigen, und in den anderen Schützengraben Nationalisten sowie für den nächsten Gehaltsscheck kämpfende Männer des russischen Prekariats.
Last but not least sind Kriegsverbrechen (wie Verbrechen im Allgemeinen) aber auch eine Frage der Gelegenheit. Die ukrainische Armee hat keinen Grund, die eigene Zivilbevölkerung zu schädigen. Allenfalls die russische Zivilbevölkerung könnte sie schädigen wollen. In Kursk zumindest hat sie dies bisher vermieden.
In diesem Sinne glaube ich übrigens nicht, dass russische Soldaten in diesem Konflikt Zurückhaltung üben. Es befinden sich vielleicht einfach keine größeren "feindlichen" Bevölkerungssegmente mehr unter ihrer Kontrolle.
Seit Frühling 2022 haben die Russen fast keine bewohnten Ortschaften mehr erobert. Die Bevölkerung der eroberten Gebiete hingegen ist, wenn sie pro-ukrainisch war, entweder geflohen bzw. wurde durch Repressalien gefügig gemacht (z.B. Filtrationslager), oder sie war ohnehin pro-russisch.