(11.08.2024, 10:27)Kongo Erich schrieb: [ -> ]es ist doch bemerkenswert, dass die Ukraine bei Kursk mit mehreren - auch mit westlichen Waffen - gut ausgestatteten Einheiten vorgeht, während Russland dort nur Wehrpflichtige stationiert haben soll. Mich erinnert die Situation an die letzte erfolgreiche große Offensive. Damals hat die Ukraine bei Charkiw im Norden (ähnlich nun zwischen Sumy und Kursk ?) fast wie in einem "Blitzkrieg" Boden gewonnen, während im Süden bei Cherson (wie jetzt zwischen Kramatorsk, Donezk ?j ein sehr zähes Ringen geherrscht hat [.]
Nun, wie erwähnt, sind die Russen bereits dazu übergegangen, Infanterieregimenter aus Luftwaffenpersonal zu bilden, selbst aus Bordtechnikern und Piloten. Auch sind die Verpflichtungsprämien in die Höhe geschossen, in Moskau bspw. betragen sie mittlerweile das Zehnfache eines durchschnittlichen Jahreslohns.
Mit anderen Worten: Es herrscht ein akuter Mangel an Soldaten. Der freilich auch mit der Rechtslage zu tun hat. Noch scheut der Kreml die Kriegserklärung und Generalmobilmachung; bis dahin stehen die Wehrpflichtigen nur im Inland zur Verfügung. Also liegt es nahe, sie im Grenzschutz einzusetzen.
Mich wundert auch nicht mehr, dass man so kalt erwischt wurde.
Ich bin mittlerweile der Ansicht, dass die Überfälle auf Grenzposten in den Oblasten Belgorod und Kursk, die in den letzten neun Monaten von der Russischen Legion, dem Sibirischen Bataillon und anderen pro-ukrainischen russischen Freiwilligenverbänden verübt wurden, der Vorbereitung dieser Offensive dienten.
Ich weiß, ich habe neulich über Gerassimow gespottet, aber eigentlich überrascht es mich nicht, dass er, als mal wieder ein, zwei ukrainische Kompanien auf seiner Seite der Grenze auftauchten, dem Vorgang offenbar keine Bedeutung beigemessen hat. Es war nach meiner Zählung der achte Vorfall dieser Art.
(11.08.2024, 10:27)Kongo Erich schrieb: [ -> ]Tatsächlich ist inzwischen - nach zwei einhalb Jahren ununterbrochener schwerer Kämpfe und 10 Jahren seit der Invasion ukrainischer Teilgebiete - längst ein Abnützungs- oder Erschöpfungskrieg in Gange. Den wird die Seite endgültig verlieren, der als erstes die Resourcen ausgehen.
Vor dem Ausgehen der Ressourcen könnte ein Erlahmen des Kampfeswillens erfolgen. Die Ukrainer sind, obwohl als Verteidiger naturgemäß leichter zu motivieren, in dieser Hinsicht etwas gefährdeter; denn die ukrainische Gesellschaft ist offener als die russische, regierungskritischer, und die Regierung verfügt weder de jure noch de facto über die Mittel, die Fortführung des Krieges zu erzwingen.
Aber ein solcher Zusammenbruch ist alles andere als wahrscheinlich, sogar im Falle steigender Verluste, die durchaus auch vereinend und verhärtend wirken könnten. Ehrlich gesagt, ich sehe in der Annahme vieler deutscher Politiker, Journalisten und Experten, dass der ukrainische Widerstand ohne westliche Hilfe rasch zusammenbrechen werde, eine Fortsetzung dessen, was Snyder einst den "kolonialen Blick" der Deutschen auf die Ukraine nannte.
Verhandlungen wird es geben, wenn die Ukrainer verhandeln wollen oder die Russen verhandeln müssen. Aktuell geht es eindeutig darum, sich in die bessere Ausgangslage zu bringen. Ironischerweise kann der von manchen Politikern als Eskalation gegeißelte Vorstoß auf Kursk in diesem Sinne sogar kriegsverkürzend wirken. Denn klar ist, dass selbst die russischen Minimalforderungen für die Ukraine unannehmbar sind.
Was die Dynamik anlangt, droht hier im Endeffekt ein aus dem Haus in den Garten vertriebener Einbrecher damit, dem Hausbesitzer die Bude anzuzünden, wenn er ihm nicht die Schlüssel und alle Küchenmesser aushändigt – auf dass er morgen wiederkommen und das Haus ein für alle Mal ausräumen kann.
Das ist keine Grundlage für einen Frieden.
(11.08.2024, 10:27)Kongo Erich schrieb: [ -> ]Und gerade auch wenn man die engen Verbündeten beider Seiten - Nordamerika mit den USA sowie Kanada und der EU hier, China mit Iran und Nordkorea dort - ansieht, dann dürfte auf Dauer gesehen eher die westliche Wirtschaftsmacht dominieren.
Die Abhängigkeit der Ukraine von westlichen Hilfslieferungen sinkt allmählich, wie das 'ISW' vor ein paar Wochen schrieb. Ende 2025 könnte das Land in der Lage sein, seinen Munitionsbedarf zu wesentlichen Teilen selbst zu decken – ausgenommen einige Systeme westlicher Provenienz. Auch Russland kann durchaus noch zu mehr Autarkie gelangen. Es hängt alles davon ab, wie viel man der eigenen Bevölkerung zumuten will.
Vor diesem Hintergrund halte ich übrigens die Hoffnung auf politische Umwälzungen in Russland selbst für nicht ganz so naiv, wie es scheinen könnte. Nach wie vor scheut man nämlich die Mobilmachung und versucht, die Kriegsfolgen auf die armen, nicht-slawischen Föderationssubjekte abzuwälzen, damit die slawische städtische Mittelschicht ihre Ruhe hat. Das ist für mich ein Hinweis, dass man dieses demographische Segment nicht verärgern will.
(11.08.2024, 10:27)Kongo Erich schrieb: [ -> ]Natürlich wird das langwierig, je intensiver China sich unterstützend engagiert - aber gegen die vereinte Wirtschaftskraft von EU und USA steht China tatsächlich hinten an. Und dann frage ich mich, welches Interesse die Unterstützer beider Seiten antreibt.
Man kann sich also durchaus auch fragen, ob Chinas Interesse auch darin liegt, Russland noch mehr erschöpfen zu lassen und letztendlich vom Juniorpartner (der Russland inzwischen ist) zum Satelliten zu degradieren.
Nach meinem Kenntnisstand leistet China Russland bislang auf militärischem Gebiet keine nennenswerte Hilfe. Weißt Du mehr?
Und was die Motive des sogenannten Westens anlangt, tja, da rätseln wir alle. Denn klar ist, dass viele Regierungen (vor allem die deutsche!) nicht das militärisch Gebotene und fiskalisch sowie rechtlich Mögliche tun. Wozu also? Das Spektrum reicht von einem Masterplan, Russland weichzukochen, bis hin zu einem schnöden Verwalten des Problems. Ich muss sagen: Ich glaube, dass gerade Olaf Scholz keinen Plan für die Beendigung dieses Krieges und eine Zukunftsvision für Osteuropa hat, und er vor allem verwaltet. Die Politik der Bundesregierung scheint mir ein Kompromisskurs zu sein, der darauf abzielt, es den Verbündeten und den Pro-Ukrainern im Land rechtzumachen, ohne die Pro-Russen komplett zu vergraulen.
Das eine gelingt kaum, das andere gar nicht.
(11.08.2024, 10:27)Kongo Erich schrieb: [ -> ]Mir tut das für jeden Toten leid, auch für die Russen,
Mir auch.
Wobei ich gestehen muss, dass ich weniger Mitleid mit den russischen Soldaten habe – oder anders formuliert, ich hätte mehr Mitleid mit ihnen, wenn ich wüsste, dass es Wehrpflichtige sind, die zur Teilnahme an den Kämpfen gezwungen sind. Die Teilnehmer der "speziellen Militäroperation" sind freilich sämtlich Freiwillige, die sich in Kenntnis der Sachlage freiwillig meldeten. Letzteres kann man nicht genug betonen. Durch Milblogger und Flurfunk verbreitet sich noch ein recht zutreffendes Bild von der Situation an der Front; und der Durchschnittsrusse weiß durchaus auch um die Dedowschtschina und die eigenen Kriegsverbrechen. Er tritt bewusst in ein System ein, das man als verbrecherisch bezeichnen kann.
(11.08.2024, 10:27)Kongo Erich schrieb: [ -> ]die ich privat als überaus herzlich kennen gelernt habe.
Ich auch, und deswegen ist es umso trauriger, dass @Quintus Fabius' Schilderung zutrifft.
In Russland erlebst Du überall eine Gastfreundschaft, die Du in Deutschland vielleicht allenfalls in sehr ländlichen und isolierten Regionen wie auf Halligen oder in Alpendörfern finden kannst. Es sind herzliche, feierlustige Menschen, aber mit zwei Gesichtern – eines, das sie Freunden und Familie zeigen, und einem, das Staat und Gesellschaft zu sehen bekommen.
Russland hat niemals Demokratie und Diskurs gelernt. Wie weiland die Deutschen verbinden viele Russen mit dem Wort 'Demokratie' Begriffe wie "Chaos" und "Armut". Und dank des kommunistischen Kollektivismus konnte sich in Russland auch niemals jener Individualismus entwickeln, der für eine gesunde Zivilgesellschaft nötig ist, indem er das Anspruchsdenken schafft, dass sich die Regierung auch vor dem Einzelnen zu verantworten hat.
Nur wenige Menschen dort machen sich Gedanken über Russlands Verhältnis zu seinen Nachbarn, und nur die zwischen ca. 1980 und 2000 geborenen Russen haben überhaupt genug Freiheit erlebt, als dass sie in Erfahrung gebracht hätten, warum viele ihrer Nachbarn Vorbehalte gegen sie hegen.