Pmichael:
Die Ukraine hat dezidierte Fernspäher, insbesondere auch als Spezialeinheiten die in Zivil bzw. als Zivlisten getarnt hinter der russischen Front agieren und von dort Aufklärung betreiben. Dazu kommen noch jede Menge Agenten des ukrainischen Geheimdienstes usw. Diese haben aber, so wie es bei unseren Fernspähern auch der Fall wäre (gewesen wäre) nur einen bedingten Einblick in die russischen Stellungssysteme selbst. Die "Front" ist ein Bereich in dem solche Einheiten eben nicht so viel Einblick haben, obwohl auch da von beiden Seiten Späher unterwegs sind (und regelmässig zusammen geschossen werden).
Es geht aber bei dem beobachteten Vorgehen meiner Meinung nach eben nicht primär um Aufklärung durch Kampf, dass ist nur einer der Aspekte. Eine wesentliche Zielsetzung ist meiner Meinung nach eben das Zerschlagen der russischen Vorposten.
Werter Nightwatch:
Zitat:Natürlich wäre der Ansatz mit einem vorgezogenen Angriff die Flanke des Hauptvorstoßes durch Bindung des Feindes zu sichern valide. Ich hätte auch nichts gesagt, wenn dieser Stoß dann am 9., 10. oder meinetwegen noch 11. Juni erfolgt wäre. Ist er aber nicht, im Gegenteil
Und gerade eben deshalb meine ursprüngliche Fragestellung vor mehr als einer Woche, ob die Ukrainer überhaupt zu solchen Operationen befähigt sind. Was zu bezweifeln ist!
Es könnte im übrigen auch so sein, dass der ursprüngliche Plan einfach nicht aufrecht erhalten wurde. Man hatte also vor die Flanke zu sichern und dann den Stoß durchzuführen, hat diesen aber dann abgesagt. Das ist kriegsgeschichtlich nicht unüblich, dass man seine Pläne ad hoc umwerfen muss. Vielleicht also war ein solcher Stoß geplant, und wurde dann aus Gründen die wir nicht kennen abgesagt. Beispielsweise weil man Informationen über eine russische Falle, ein etwaiges russisches Schlagen aus der Nachhand oder signifikante russische Verstärkungen hatte oder was auch immer.
Nur weil etwas nicht erfolgt ist heißt das ja nicht umgekehrt, dass es nicht ursprünglich so hätte erfolgen sollen.
Kurz und einfach: wir wissen viel zu wenig über das was da vor sich geht und so ist alles nur trübstes Stochern im Nebel.
Zitat:Damit war der Angriff der 47. Brigade über das bloße Abnutzen hinaus ohne operative Bedeutung, mithin in meinen Augen eine Verschwendung eines zumindest hervorragend ausgerüsteten Verbandes.
Auch das ist im Krieg absolut üblich und geschieht ständig. Wie ich es schon mehrfach geschrieben habe: Krieg ist, wenn beide Seiten ständig massiv versagen, scheitern und Mist bauen und im allgemeinen Chaos dann eine Seite etwas weniger Fehler macht und deshalb gewinnt. Die ganzen Idealvorstellungen wie man Krieg real praktisch führen kann sind meiner Überzeugung nach nichts anders als dies: reine Vorstellungen.
Da wird also eine Brigade falsch angesetzt, kriegt naturgemäß etwas auf die Mütze und man bricht ab was auch immer man da versuchte. Alles ganz normal. Das ist gerade eben der Normalfall.
Zitat:Das von dir vermutete bewusste, methodisch langsame Vorgehen zur Abnutzung und Zurückdrängen der russischen Verbände bis unmittelbar vor die vorbereiteten Verteidigungsräume halte ich dabei nicht viel zielführend. Die russische Doktrin sieht (eingedenk der beschränkten Manpower) schließlich vor, dass die Truppen, die derzeit in vorgelagerten Räumen mit wenig Tempo und letztlich unzureichenden Kräften bekämpft werden bei zu starken Druck sukzessive auf die vorbereiteten Stellungen zurückweichen. In diesen Räumen steht dann nicht etwa die Hauptverteidigungsstreitmacht, sondern die Verteidigung muss auch dort im Wesentlichen von den Truppen geleistet werden, die aktuell in den vorgelagerten Räumen abgenutzt werden.
Anstatt sich aber auf diesen Abnutzungskampf einzulassen und den Gegner nach Gutdünken zurückweichen zu lassen wäre es empfehlenswert (gewesen), den Feind schon in den vorgelagerten Räumen mit überwältigender Schlagkraft und großem operativen Tempo anzugreifen, sodass ein geordnetes Zurückweichen auf die Hauptverteidigungslinien unmöglich wird.
Das setzt voraus dass diese Hauptverteidigungslinien primär von den Truppen der Vorposten besetzt werden und dass diese Vorposten wenig bis keine Wirkung hätten. Vor allem das letzgenannte ist aber meiner Meinung nach eben nicht der Fall. Vorposten sind meiner Ansicht nach absolut wesentlich in der Verteidigung und können erhebliche Effekte erzielen, insbesondere die eigentlichen Hauptverteidigungsräume (Main Defence Area - MDA) verschleiern und so abdecken, dass man maximal ungünstig in diese hinein gerät. Dabei sollte man die aufgeklärten Grabensysteme und Betonhindernisse nicht mit der eigentlichen MDA verwechseln.
Die Vorposten wegzudrücken bevor man dann konzentriert und massiv an einer Stelle die Hauptverteidigung durchbricht ist daher meiner Meinung nach sinnvoll und notwendig um gerade eben diese "Linie" an einer Stelle auf einen Schlag zu durchbrechen. Ein solches Vorgehen kann daher meiner Meinung nach gerade eben dem "großen Schlag und Durchbruch" dienen.
Meiner Meinung nach ist es sehr schwer einen geschickten Verteidiger in seinen Vorposten schnell und auf einen Schlag massiv abzunutzen so dass kein Zurückweichen mehr möglich ist. Das ist extrem risikoreich, führt etwaig zu sehr hohen eigenen Verlusten und hat eine signifikante Wahrscheinlichkeit zu scheitern. Zudem setzt es meiner Meinung nach umfangreiche Luftnahunterstützung und/oder entsprechendes hochqualitatives Artilleriefeuer voraus, und beides steht der Ukraine so nicht zur Verfügung.
Wenn der Gegner auch nur ansatzweise in der Verteidigung weiß was er tut, dann können relativ kleine Verbände in einem solchen Vorpostensystem bereits immense Wirkung erzielen, kombiniert mit Minenfeldern, Scharfschützen, Panzerjägern usw. kann dies beim Versuch den Feind bereits in seinen Vorposten massiv abzunutzen eigentlich nur dazu führen, dass man zwingend höhere Verluste als der Feind erleidet und das bei hoher Wahrscheinlichkeit dass der Hauptverteidigungsraum immer noch von ausreichend feindlichen Truppen besetzt ist.
Zitat:Was passiert stattdessen? Man schiebt sich am Mokri Yali mit nicht voll mechanisierten Kräften mühsam voran, drückt damit einen wenig relevanten Frontvorsprung ein und schiebt die Russen auf ihre Hauptverteidigung zurück. Kann man machen und als vorbereitende Operationen sicher zweckdienlich, ein Angriff in Korpsgröße an den Flanken des Frontbogens hätte den Gegner in diesem Sektor allerdings vollends geworfen und eine Lücke in den eigentlichen Verteidigungsraum gerissen.
Hätte ihn vielleicht vollends geworfen. Und vielleicht kommt dieser Angriff in Korpsgröße noch. Jedoch: Ein Angriff in einer solchen Größenordnung ist meiner Ansicht nach eine der schwierigsten und komplexesten Operationen. Das muss man erst mal Können und dass kann sehr leicht an allem möglichen haken und hängen. Allein der Übergang von den Marschformationen in Gefechtsformationen und wie man diese dann im Gelände bewegt ist bei einer solchen Größenordnung praktisch real unfassbar schwierig.
Und nehmen wir einmal an, die Ukrainer haben die Befähigung dafür einfach gar nicht: dann stellt sich die Frage was sie überhaupt tun sollen ?! Und dann ist ein Wegdrücken des Gegners durchaus eine Option, in der Hoffnung dass der Rückzug dann an irgendeiner Stelle eine Lücke in der "Front" verursacht die man explorieren kann, es zu Auflösungserscheinungen beim Feind kommt wie das schon mal der Fall war oder dass man zumindest das Verlustverhältnis stark zu seinen Gunsten gestaltet.
Nehmen wir einmal an, die Ukrainer können eine solche Operation einfach nicht, was dann ?!