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Normale Version: Russland vs. Ukraine
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(30.05.2023, 09:22)Schneemann schrieb: [ -> ]Die Bayraktar-Raids der ersten Kriegsmonate gegen die Russen würden heute sehr wahrscheinlich nicht mehr den gleichen Erfolg bringen, und umgekehrt schießen die Ukrainer derzeit vermutlich 80% der iranischen Drohnen vom Himmel. Man sieht also, dass die "Wunderwaffe" zur normalen "Waffe" wurde. Sie ist als Waffe somit sicherlich noch da, und gerade die kleinen Aufklärungsdrohnen sind in den verschachtelten Gefechten eminent wichtig und den einen oder anderen ärgerlichen Treffer werden sie auch noch landen, aber den Schrecken haben die Drohnen verloren. Unabhängig davon hätte auch aktuell jede Drohne ihre Probleme im waffenstarrenden Luftraum über der Ukraine, egal ob es eine Bayraktar, eine Shahed oder auch eine Predator wäre.

Schneemann

Stimmt, aber allein wegen der höheren Kosten kann die TB nicht mehr effizient eingesetzt werden. Bisher war man meines Erachtens davon ausgegangen dass diese Drohnen auch außerhalb von Low-Tech-Konflikten sinnvoll einsetzbar wären. Diese These hat sich damit nicht bestätigt und interessant dürfte sein wie die türkische Rüstungsindustrie darauf reagieren wird.
(30.05.2023, 22:08)lime schrieb: [ -> ]Bisher war man meines Erachtens davon ausgegangen dass diese Drohnen auch außerhalb von Low-Tech-Konflikten sinnvoll einsetzbar wären.

Es gibt immer, auch in symmetrischen Konflikten, auch im hochintensiven und modernen Krieg Zeiten und Räume für derartige Drohnen. Nur dauerhaft halt nicht in dem Maße und mit der Wirkung, wie manch einer sich das vorgestellt hat. Und das sollte eigentlich jedem, der sich mit der Thematik intensiver auseinander gesetzt hat auch bewusst gewesen sein.
Die Fragestellung ist aber, ob man dem Drohnen-Geschehen in der Ukraine all zu viel ableiten sollte. Denn die dort verwendeten Drohnen sind zum größten Teil krude Modelle, modifizierte zivile Mini-Drohnen usw.

Da geht schon deutlich mehr als das was wir da sehen, aber das kostet dann natürlich auch mehr. Und das gleiche gilt natürlich auch für die Abwehr. Die meisten Problemstellungen der Drohnenkriegsführung liegen aber meiner Überzeugung nach darin, dass man zu wenig auf Autonomie setzt und stattdessen die Drohnen immer steuern will. Für etliche Anwendungen wäre meiner rein privaten Ansicht nach schon in Kürze eine Vollautonomie erreichbar und das - kombiniert mit dezidiert als militärische Systeme konzipierten Drohnen - wäre eine ganz andere Liga als das MadMax rumgeschraube in der Ukraine.

Entsprechend sollte man bereits hier und jetzt die Abwehrsysteme entwickeln und einführen.

BLICK VON OSTEN:

Strelkov über die psychologische Wirkung der Drohnenangriffe auf Moskau:

https://twitter.com/wartranslated/status...80/photo/1

Und auch das sollte man nicht außer Acht lassen (Stichwort Drohnenvideos erfolgreicher Einsätze) - Drohnen sind hervorragende Mittel der Informationskriegsführung die in der Lage sind ein völlig verzerrtes und falsches Bild der Kriegsführung und der jeweiligen militärischen Ergebnisse zu produzieren. Im Kombination mit den sogenannten Smartphones und dem Netz ist ihre Wirkung auf der psychologischen Ebene immens und weit über ihrer realen Wirkung. Diese psychologische Wirkung ist wesentlich! Uns fehlt meiner Ansicht nach jedes sinnvolle Konzept für die Informationskriegsführung dieser Art und auch für die Abwehr derselben durch den Feind.

Da der Krieg aber vor allem anderen das Primärziel hat auf den Willen des Feindes zu wirken, sind Drohnen äußerst effektive Systeme (im Sinne dieser Zielsetzung).
Zum einen ging es jetzt konkret um die Bayraktar, die bereits in der Vergangenheit immer wieder als "Wunderwaffe" hochstilisiert wurde, was sich in der ersten Phase des Krieges zu bestätigen schien und nicht nur von Populärmedien, sondern auch von vermeintlichen Experten aufgegriffen wurde (abgesehen vom Begriff selbst). Und sowohl diese Drohne selbst als auch ihre Kategorie hat aus verschiedenen Gründen einen schweren Stand in einem modernen, intensiven Konflikt. Das war vorher klar, und das hat sich nicht geändert. Daran wird im übrigen auch Autonomie nicht viel ändern.

Zum anderen wird sich die Fortentwicklung zur Autonomie deutlich im Drohneneinsatz insgesamt und natürlich auf die möglichen Gegenmaßnahmen auswirken. Allerdings teile ich auch weiterhin deine Ansicht nicht, dass eine effektive Vollautonomie in wesentlichen Bereichen in Kürze erreichbar ist. Die ausführliche Diskussion dazu haben wir ja an anderer Stelle geführt:
https://www.forum-sicherheitspolitik.org...p?tid=1648
Zitat:Vertrag über Stationierung russischer Atomwaffen in Belarus unterschrieben

Russland und Belarus haben am 25. Mai ein Abkommen über die Stationierung taktischer Kernwaffen auf dem Staatsgebiet von Belarus vereinbart. Dieser Schritt folgt auf die Ankündigung des russischen Präsidenten, Wladimir Putin, vom März dieses Jahres, im Nachbarland taktische Atomwaffen stationieren zu wollen. Der Ausbau der dafür notwendigen Infrastruktur solle bis zum 1. Juli abgeschlossen werden, so die damalige Ansage Putins. [...]

Mit der Stationierung der taktischen Kernwaffen in Belarus und der gleichzeitigen Kontrolle über diese Waffen versucht Russland offenbar, das Konzept der nuklearen Teilhabe der NATO zu kopieren, um sich auf dieses seit den 60er Jahren innerhalb des westlichen Verteidigungsbündnisses bestehende Konzept zu berufen und das eigene Handeln zu legitimieren. [...]

Der Kreml setzt mit dieser Politik allerdings seine einseitige nukleare Eskalation fort, die er bereits seit dem Beginn der russischen Vollinvasion in die Ukraine im Februar des vergangenen Jahres betreibt. Ziel dieser Drohungen ist es, die westlichen Gesellschaften zu verunsichern und einzuschüchtern, damit diese ihre Unterstützung für die Ukraine reduzieren. [...]

Sollte es tatsächlich zu einer Stationierung taktischer Kernwaffen in Belarus kommen, werden vor allem die osteuropäischen Mitglieder der NATO auf eine Reaktion drängen. So hat der litauische Außenminister, Gabrielius Landsbergis, bei einer Diskussionsveranstaltung in der deutschen Botschaft in Stockholm am 11. Mai betont, dass bei einem solchen Schritt seitens Russlands die NATO offiziell die NATO-Russland Grundakte von 1997 für nichtig erklären sollte. An dieser halten bisher insbesondere Deutschland aber auch die USA noch fest, trotz des einseitigen Bruchs des völkerrechtlichen Vertrages durch die Russische Föderation.
https://esut.de/2023/05/meldungen/42459/...schrieben/

Zwar hat Belarus durchaus das Recht dazu, den Atomwaffenverbotsvertrag (TPNW) von 2017 hat man auch nicht unterzeichnet (Deutschland übrigens auch nicht), aber ich bin mir nicht sicher, ob man in Minsk die v. a. politische Tragweite erkennt? Moskau begründet sein Handeln zwar damit, dass die NATO ähnlich verfahren würde - Stationierung von Atomwaffen in anderen Staaten -, aber genau genommen ist dieser Vergleich aus Moskauer Sicht selbst unsinnig. Wir in Europa oder im Westen sehen Belarus als weitestgehend eigenen Staat an, trotz massiver Abhängigkeit von Russland. Für Russland indessen ist das nicht so, die Stationierung von solchen Systemen ist für die derzeitigen Machthaber ungefähr so, als wie wenn sie Atomwaffen von Moskau nach Petersburg verlegen. Und ich bin mir nicht sicher, ob man das in Minsk auch bemerkt...

Schneemann
Zu den Waffentransfers seitens des Iran nach Russland:
Zitat:Iran has a direct route to send Russia weapons – and Western powers can do little to stop the shipments

(CNN) - The waters of the Caspian Sea appear deceptively calm. But this sea route – which provides a direct path between Iran and Russia – is increasingly busy with cargo traffic, including suspected weapons transfers from Tehran to Moscow.

As cooperation between the two countries deepens, the Caspian Sea route is being used to move drones, bullets, and mortar shells that the Russian government has purchased from the Iranian regime to bolster its war effort in Ukraine, according to experts. Tracking data shows that vessels in the region are increasingly going “dark” – suggesting growing intent to obfuscate the movement of goods. [...] “There is no risk to Iranian exports in the Caspian Sea because of the bordering countries – they don’t have the capability or motive to interdict in these sorts of exchanges,” said Martin Kelly, lead intelligence analyst at security company EOS Risk Group. Azerbaijan, Turkmenistan and Kazakhstan, all former Soviet republics, are the other nations with ports on the Caspian Sea. [...]

There’s been an overall jump in the number of vessels in the Caspian Sea turning off their tracking data between August and September of 2022, according to Kelly. [...] The phenomenon is largely driven by Russia-flagged and Iran-flagged ships and, in particular, the type of cargo ships capable of carrying weaponry, according to Bridget Diakun, a data analyst and reporter for Lloyd’s List, which specializes in analysis of global maritime trade. [...] At the end of 2022, Lloyd’s List Intelligence data shows there was an uptick in “probable dark port calls” to Russia and Iran’s Caspian Sea ports. [...]

Other vessels that experts highlighted as being suspicious can be seen going dark on the approach to Iran’s Amirabad Port and Russia’s Astrakhan Port, or can be seen turning off their tracking data for extended periods of time. [...] The United States, along with European allies, consider Tehran’s arms transfers to Russia to be in violation of UN Security Council Resolution 2231, which was passed to endorse the 2015 Iran nuclear deal and control the transfer of weapons from Iran.
https://edition.cnn.com/2023/05/26/europ...index.html

Nicht nur, dass dieses "abdunkeln" von Schiffen gewisse Risiken birgt, bis hin zu Kollisionen - allerdings machen dies russische und iranische Schiffe bzw. umgeflaggte Schiffe nicht nur im Kaspischen Meer, sondern weltweit auf den Ozeanen -, so ist dieses ganze Theater auch keine Einbahnstraße. Im Artikel wird auch darauf verwiesen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis in Iran erste Javelins etc. auftauchen und dass diese Modelle dann dort nachgebaut werden.

Schneemann
https://markets.businessinsider.com/news...ing-2023-6

Zitat:Russia is spending surprisingly little on its war on Ukraine

Russia's invasion of Ukraine has cost Moscow a small amount by historical standards, per the Economist.
Russia's spending remains opaque, but its war budget is about 3% of GDP.
By comparison, the Soviet Union spent 61% of GDP in World War II.

Nun könnte man natürlich anmerken, dass Blut, Zeit und Geld austauschbare Werte im Krieg sind, und die "geringen Kosten" daher mit Blut erkauft werden.

https://www.economist.com/graphic-detail...ct&irgwc=1

Zitat:The direct fiscal cost of the war — spending on soldiers and machines — is estimated to be about 3% of Russia's GDP, or roughly $67 billion a year, according to the report. That figure comes from a comparison of Moscow's pre-invasion spending forecasts for defense and security with what it actually spent.

Printing additional cash to fund the war would push inflation higher and weigh on Russia's citizens. Saddling banks with war debt could do the same, and both options in turn could harm Vladimir Putin's political aims.

Plus, the technology underpinning armed forces today is more advanced than ever, which means militaries require fewer people and machines for a war effort.

To be sure, the war has resulted in widespread sanctions that have reshaped global oil flows and trade, and cut into Russia's energy supremacy. Western nations have barred or boycotted Russian commodities, which has pushed Moscow to seek alternative destinations for its oil and other goods.

Je länger der Krieg noch in der Schwebe bleibt und andauert, desto besser wird sich die russische Volkswirtschaft anpassen, neue Abnehmer für Rohstoffe finden und sich wirtschaftlich neu ausrichten.

Aktuell könnte Russland, wenn es nicht derart korrupt und ineffizient wäre, den Krieg in seiner jetzigen Form de facto tatsächlich nach Belieben solange weiter führen, bis die lebendige Wehrkraft der Ukraine verblutet ist.
Bei Kupjansk scheint aktuell ein russisches Ablenkungsmanöver zu laufen. Angeblich hat eine russische Einheit den Oskil nördlich der Stadt überquert und stößt nun Richtung Kupjansk vor.
Eine gut gemachte Aufbereitung des Kampfes um Hostomel in den ersten Kriegstagen:
https://www.youtube.com/watch?v=r0Ji7KqqEqg
@Quintus
Zitat:Je länger der Krieg noch in der Schwebe bleibt und andauert, desto besser wird sich die russische Volkswirtschaft anpassen, neue Abnehmer für Rohstoffe finden und sich wirtschaftlich neu ausrichten.
Ja, das beobachte ich auch. Zudem muss ich selbst mich hier auch durchaus kritisieren; ich hatte ja selbst zu Beginn des Krieges recht nonchalant die Ansicht vertreten, dass die russische Wirtschaft innerhalb von ein paar Monaten kollabieren würde. Das hat sich bekanntermaßen nicht bewahrheitet und das war sicher, bezogen auf Prognosen, eines der großen Fettnäpfchen meinerseits in den ersten Kriegsmonaten. (Übrigens ist es doch spannend, wenn man sich "Prognosen" von uns allen zu Beginn des Krieges hier im Strang anschaut; da waren manche Blüte dabei.)

Allerdings ist es zugleich auch so - das mag für uns nun die gute Nachricht sein -, dass sich auch die Volkswirtschaften in Europa, auch in Deutschland, im Grunde relativ schnell wieder gefangen haben. Nach Energiepreisschock, Panik wegen leeren Gaslagern und Inflation und dem kolportierten flächendeckenden Blackout in Deutschland, der zum Glück auch nicht kam, gibt es auch hier allmähliche Entspannung (Tanks sind bereits jetzt zu 75% gefüllt [ggü. 49% vor einem Jahr], Inflation sinkt beständig [derzeit ca. 6%] und die Energiepreise sind ebenso rückläufig).

Die schlechte Nachricht ist allerdings, dass das nicht unbedingt der Ukraine zu Gute kommen muss. Denn: Wenn sich die Hauptakteure, wenn man neben Russland einmal die Westmächte als Akteure ansehen mag, diesen Krieg "leisten" können, ohne dass es an der Heimatfront zu größerem innenpolitischen Ärger kommt, heißt das, dass dieser Krieg erst mal nach Gutdünken weiter im Fortgang gehalten werden kann. Und das wiederum geht zu Lasten der Ukraine und der Menschen dort, die i. d. T. ausbluten bzw. zermahlen werden. Bedeutet: Rein wirtschaftlich sind die Aussichten der Ukraine insofern bzw. aus humanitärem Blickwinkel gesehen trübe, wenn man dieses gedankliche Konstrukt eines Abnützungskrieges bemühen will.

Einzig politisch gibt es Unabwägbarkeiten, die den Krieg möglicherweise beeinflussen könnten. Bsp. wären etwa: Umsturz in Russland, Kriegsmüdigkeit und Desinteresse im Westen, König Donald II. in den USA etc.

Schneemann
Ja das ist faszinierend, wenn man sich ansieht was alle so zu Kriegsbeginn vermuteten.

Beispielsweise nannte ich damals als sinnvollste Strategie, die Russen ganz langsam ausbluten zu lassen und den Krieg so lange wie möglich in die Länge zu ziehen. Deshalb empfand ich die damals anlaufenden Waffenlieferungen als zu massiv / zu umfangreich und befürchtete, die Ukrainer könnten mit diesen Waffenlieferungen zu schnell zu einem Abschluss kommen und/oder der Krieg dadurch unkontrollierbar eskalieren. Umgekehrt forderte Nightwatch von Anfang an sehr viel mehr Unterstützung um den Krieg kurz zu halten und den Ukrainern einen möglichst schnellen Abschluss zu ermöglichen. Beide gingen wir von einer langen Kriegsdauer aus und dass Russland durchhaltefähig ist, zogen daraus aber komplett konträrer Schlußfolgerungen (langer Krieg als Ziel vs Kriegsverkürzung als Ziel). In der Retrospektive muss ich Nightwatch zustimmen. Es wäre besser gewesen die Ukraine gleich massiv mit Waffen zu fluten und den Krieg dadurch schneller zu einer Entscheidung zu führen.

Damals hast du teilweise von Wochen gesprochen was den Zusammenbruch der russischen Wirtschaft angeht. Die werde in wenigen Wochen kollabieren. Stattdessen 0,7% Wirtschaftswachstum. Umgekehrt ging ich davon aus, dass die wirtschaftlichen Folgen für uns selbst wesentlich massiver sein würden, und ich schrieb damals noch, dass es im Winter zum Kollaps in Deutschland kommen könnte, inklusive massiven Stromausfällen und Ausfall der Heizung in ganzen Bundesländern etc. Auch das ist nicht ansatzweise eingetreten (wobei wir auch geradezu unverschämt viel Glück hatten mit diesem "Winter").

Die meisten Experten nannten bei Kriegsbeginn einen schnellen Zusammenbruch der Ukraine als Ergebnis. Sie gingen noch erstaunlich lange davon aus, dass die Ukraine kollabieren wird. Stattdessen hat sich die Ukraine gehalten und an Stärke gewonnen. Dann gingen viele Experten davon aus, dass die Russen nicht durchhalten werden, und auch dies erwies sich als falsch. Dann erklärten die meisten Experten, dass die Russen extrem schwach sind und unfähig - mit wenigen Ausnahmen wie beispielsweise Reisner, der durchgehend vor den Russen warnte und von Anfang an genau deshalb sehr viel mehr Waffen und sehr viel mehr Unterstützung für die Ukraine forderte. Und jetzt diskutiert man längst über Systeme bzw. hat welche geliefert die anfangs indiskutabel waren, aber eben nicht in ausreichender Anzahl.

Im Winter ging ich davon aus, dass der strategische Bombenkrieg der Russen erhebliche Wirkung erzielen wird. Du schriebst damals, dass sei nicht mal ein strategischer Bombenkrieg und andere, dass die Russen diesen nicht lange würden führen können. Stattdessen war die Wirkung verblüffend gering, aber die Russen führen ihn trotzdem einfach weiter um damit die ukrainische Luftraumverteidigung abzunutzen.

Es ist wirklich faszinierend wie sich das alles entwickelt hat. Wer hätte das ehrlich gleich zu Kriegsbeginn so gedacht ?

Rein persönlich ging ich bei Kriegsbeginn von einer Niederlage der Ukraine im Osten des Landes aus, dass diese zumindest bis zum Dnepr besetzt wird und dass dann der Krieg um die Restukraine ungefähr ein Jahr lang andauert und dann ohne Lösung per Waffenstillstand einschläft. Stattdessen sind die Russen de facto nicht voran gekommen und der Krieg dauert schon über ein Jahr. Einfach erstaunlich.
Meine wesentliche Fehleinschätzung war bislang war die Überschätzung der Folgen des russischen Energiekrieges gegen Europa.
Ich ging im Herbst letzten Jahres davon aus, dass man die Deutsche Energieversorgung im Winter ohne einschneidende Maßnahmen nicht aufrecht erhalten hätte können. Milder Winter hin oder her, lang war er mit der Heizperiode bis in den Mai hinein jedenfalls und es kam doch vollkommen anders.
Die Bundesregierung hat hier zwar zur später Stunde aber noch rechtzeitig die Kurve gekriegt und Schlimmeres verhindert. Gehörte freilich auch Glück dazu, wenn Norwegen nicht in dem Maße hätte liefern können wie sie es gemacht haben und Frankreich nicht auf dem letzten Metern seine Energieversorgung stabilisiert hätte wäre es düster geworden.
Die Lehre ist trotzdem, so anfällig wie Systeme und Konstrukte auf dem Papier manchmal erscheinen mögen, sie sind in der Realität doch oft erstaunlich resilient wenn das möglichste getan wird sie aufrecht zu erhalten.
Gilt so auch für die russische Wirtschaft oder die ukrainische Energieversorgung, wobei mich zumindest ersteres eher weniger überrascht hat. Zumal die veröffentlichten Zahlen eh kaum etwas mit der Realität zu tun haben werden.
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Höchste Zeit aber einen Blick auf das operative Geschehen zu werfen. Seit gestern werden verstärkte ukrainische Angriffe im Süden gemeldet.
Schwerpunkt scheint Nordöstlich von Polohy zu liegen. Das russische MoD meldete zuletzt in Bezug auf das Geschehen gestern, Angriffe zweier ukrainischer Brigaden mit natürlich katastrophalen Verlusten zurückgeschlagen zu haben.
Aus der russischen Bloggerszene gab es dagegen Meldungen, dass die Ortschaften Novodarovka und Neskuchne an die Ukrainer gefallen sind, ISW meint die Ukrainer seinen 3km vorgerückt.
Heute morgen dann Meldungen, dass die Ukrainer dort wieder erneut in mindestens Bataillonsstärke angegriffen hätten.

Ich denke die Gegenoffensive tritt damit in eine nächste, heißere Phase ein. Sieht für mich zwar immernoch nach vorbereitenden Aktionen aus, wirkt zumindest von den Meldungen her aber deutlich intensiver als zuletzt. Die nächsten Tage dürften spannend werden.
Weiterhin aber keine keinerlei Bildbelege zu schweren westlichen Gerät.

Thomas Theiner taxiert derweil das ukrainische Offensivpotential auf mehr als 35 Brigaden und 52 nachgeordnete Bataillone. Demgegenüber sollen lediglich 86 Brigaden an der Front halten, grob gesagt also deutlich weniger als 60% Dodgy
https://twitter.com/noclador/status/1665419536844087299
Wenn die Ukrainer das so auf den Boden bringen sollten könnte das für die Russen extrem übel enden. Glaube allerdings nicht, das die Zahlen so valide sind, bzw. sie dürften sich schlicht auf die Gesamtstärke der Streitkräfte beziehen.
Auch meiner Ansicht nach ist alles was gerade läuft, einschließlich der propagandistischen Nadelstiche in Russland selbst, Shaping Operations und dient immer noch der Vorbereitung für den "Großangriff".

Sollten die Ukrainer tatsächlich über eine so starke strategische Reserve verfügen, dann muss man aber noch dazu bedenken, dass sie ihre Truppen an der Front regelmässig durchwechseln und ein großer Teil dieser Reserve daher der Aufrechterhaltung der Front dient. Entsprechend sind die frei für eine Offensive verfügbaren Kräfte nur ein Teil dieser Gesamt-Reserve. Zudem braucht man natürlich auch noch Rücklagen, sollte die Offensive scheitern oder sonstige unvorhergesehende Entwicklungen stattfinden.

Deshalb wird die Offensive der Ukraine meiner Meinung nach weniger groß / weniger spektakulär daher kommen. Sie wird auch keinen richtigen Startzeitpunkt haben, zu welchem sie sozusagen losbricht sondern eher fließend und stückweise anlaufen.

Meiner Einschätzung nach ist das von der Ukraine für die Offensive aufgestellte mechanisierte Korps noch unzureichend um einen etwaigen Durchbruch richtig explorieren zu können. Von daher wird man sich auf die Befreiung der Oblast Kherson konzentrieren, aber insgesamt eher begrenzte Ziele verfolgen und dann erst mal weiter sehen. Die Offensive wird daher nicht den "großen Geländegewinn" bringen, dass muss sie aber natürlich ja auch gar nicht. Es genügt ein kleiner, aber dafür entscheidender Geländegewinn.
Die Diskrepanz zwischen dem, was prognostiziert wurde und dem, was tatsächlich eingetroffen ist, ist tatsächlich eine äußerst interessante Angelegenheit.
Ich lag gleich zu Beginn komplett daneben, da ich einen raschen Sieg der Russen vermutet habe. Wenn nicht durch kluges Taktieren, dann eben mit der Brechstange. Da beides (glücklicherweise) nicht zum Ziel geführt hat (bzw. ersteres nicht wirklich stattgefunden hat) und ich die militärische Kompetenz der Invasoren scheinbar maßlos überschätzt habe, hielt ich mich fortan mit Prognosen zurück.

(03.06.2023, 19:33)Quintus Fabius schrieb: [ -> ]Je länger der Krieg noch in der Schwebe bleibt und andauert, desto besser wird sich die russische Volkswirtschaft anpassen, neue Abnehmer für Rohstoffe finden und sich wirtschaftlich neu ausrichten.

Aktuell könnte Russland, wenn es nicht derart korrupt und ineffizient wäre, den Krieg in seiner jetzigen Form de facto tatsächlich nach Belieben solange weiter führen, bis die lebendige Wehrkraft der Ukraine verblutet ist.

Auch hier wird es wieder spannend, wohin die Reise geht. Klar ist, die Sanktionen haben Russland (bisher) noch nicht in dem Maße getroffen, wie es sich durch der Westen erhofft wurde.
Dennoch gibt es noch einige, die immernoch auf darauf verweisen, dass ein Großteil der Sanktionen erst über längere Sicht die vollen Auswirkungen entfalten.
Schafft es Russland also, sich ohne größere wirtschaftliche Schäden vom Westen abzukapseln und es geht nun langsam aber stetig wieder bergauf, oder wirkt sich der Aderlass an klugen Köpfen sowie der Wegfall westlicher Technik und Investitionen erst noch aus, und es geht doch nochmal rapide bergab?
Mal sehen, was die Zeit bringt.
Ein kürzlich veröffentlichter Artikel zu dem Thema:
https://www.businessinsider.de/wirtschaf...roduktion/

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Genau richtig, momentan verfolge ich die Nachrichten im Stundentakt, da ich das Gefühl nicht los werde, dass bald etwas "passieren" könnte.
Auffällig hierbei ist, dass es eine Fülle an Meldungen gibt, welche sich direkt - oder indirekt - widersprechen.
Belege für diese oder jene Erfolge sind meist auch Mangelware, was allerdings natürlich irgendwo mehr als verständlich ist.
Dennoch ist interessant, dass die Konfliktparteien momentan ihre gegenseitigen Erfolge / Misserfolge unkommentiert stehen lassen, wo man in der Vergangenheit oftmals schnell bei einem Dementi war.
Fakt ist, dass vieles von dem gelieferten westlichen Offensivgerät noch nicht zum Einsatz gekommen ist, und gemeinsam mit den zuletzt ausgebildeten Soldaten mit Sicherheit eine gewisse Schlagkraft entwickeln könnte.
Fakt ist aber auch, dass die Russen sehr viel Zeit hatten, um ihre Stellungen auszubauen und sich in optimale Verteidigungsposition zu bringen.
Wird die Ukraine eine "klar abgesteckte" Großoffensive starten, oder wird sich alles im Rahmen vieler kleinerer Vorstöße bewegen, oder am Ende doch alles etwas verwässert im Sande verlaufen? Ich bleibe auch hier zurückhaltend, was eine Prognose angeht.


Ergänzung:
Da war ich jetzt zu langsam / Quintus war zu schnell...Spannenderweise hast du meine letzte Fragestellung in deinem Beitrag schon aufgegriffen und beantwortet. Interessante und gut nachvollziehbare Sichtweise.
Ich glaube nicht, dass die Ukraine es sich leisten wird offensivfähige Reserven zurückzuhalten.
Schlicht weil etwas passieren muss. Rein militärisch betrachtet kann das folgenlose Ringen um einzelne Kuhdörfer und Querstraßen zwar weitergehen, gesamtheitlich gesehen tickt aber die Uhr.
Nicht nur was die Zuversicht an der Heimatfront (ungebrochen in Erwartung eines Sieges) oder die internationalen Partner angeht (wenn sich militärisch nach all den Lieferungen gar nichts bewegt ist die Lage hoffnungslos …) sondern auch was die strategische Großwetterlage anbelangt.

Wir stehen jetzt eigentlich wieder ziemlich genau da, wo wir ihm Frühsommer vor einem Jahr auch gestanden sind. Russland hat sein Offensivpotential erschöpft und die Ukraine mit nicht Unerheblicher Überredungskunst soviel zusammenkratzen können, dass wieder Bewegung in ihrem Sinne möglich ist.
Auch dieser Jahr wieder erkaufte man sich die zur Generierung des Offensivpotentials nötige Zeit mit schmerzhaften Verlusten an der Front und widerstand vorbildlich der Versuchung, hochwertiges westliches Gerät im Kampf um tertiäre Ziele zu verkleckern. Damit maximierte man den eigenen Kräftezuwachs und verstand es gleichzeitig die Russen im großen Umfang abzunutzen (die ihrerseits dankenswerterweise dumm genug waren bei Vuhledar, Avdiivka und Bakhmut in sinnlose Offensiven zu gehen).

So positiv die Vorbereitung aber gelaufen sein mag dürfte jetzt der Punkt erreicht sein mit dem weiteres Zuwarten das ukrainische Offensivpotential nicht mehr im ausreichendem Maße vergrößert. Sprich, das Gros der zugesagten westlichen Hilfe ist eingetroffen, kurzfristig stehen noch Leopard 1 auf dem Zettel, aber das dürfte es im Wesentlichen bis in den Herbst (M1) gewesen sein. Die Russen dagegen sind mittlerweile in eine defensive Grundhaltung und operative Pause übergegangen und regenerieren sich.

Damit heißt es jetzt eigentlich, entweder jetzt angreifen oder garnicht. Und garnicht ist keine Option, denn die Aussichten werden mit Blick auf 2024 nicht besser werden. Aus der Europäischen Union sind schlicht mangels Reserven keine substantiellen Verstärkungen zu erwarten und auch aus den USA werden während des Präsidentschaftswahlkampfes ohne vorausgegangene durchschlagende Erfolge auch nicht plötzlich hunderte M1 zu Verfügung gestellt werden (so sinnvoll und geboten das auch wäre). Auf der anderen Seite wiederrum wird die russische Rüstungsindustrie trotz aller Schwierigkeiten im jetzt erhöhten Maße Wehrmaterial an die Front bringen können. Sprich, man steht jetzt gut da aber recht viel besser wird es erstmal nicht mehr werden.

Für mich bedeutet diese Gemengelage, das jetzt ein entscheidender Schlag geführt und gelingen muss. Zuwarten und Zurückhalten bringt gesamtstrategisch betrachtet nichts, zeigt die Großoffensive keine Erfolge wird sich die Wage so oder so in Richtung von Verhandlungen neigen. Ob da dann noch x Brigaden vorgehalten werden oder nicht sollte keinen entscheidenden Unterschied machen.

Wie das dann aussehen wird muss man sehen. Ich erwarte auch erstmal keine plötzlichen größeren Geländegewinne wie wir sie bei der Gegenoffensive vor Kharkiv gesehen haben. Zum einen weil die Russen im Süden dafür zu tief eingegraben sind, zum anderen weil ich eher mit mehrwöchigen, frontweit zunehmend eskalierenden aber immer noch vorbereitenden Operationen rechne, die russische Kampfkraft erschöpfen und Reserven binden werden. Sprich ich erwarte da keinen kühnen Panzerdurchbruch und Ukrainische Spitzen in 72 Stunden am Asowsche Meer oder so, sondern ein eher langsames Vordringen bevor gerne auch in anderen operativen Räumen der entscheidende Schlag gesetzt wird und die russische Position zusammenklappt. Mein Favorit wäre hier ein Überqueren des Dnepr bei Kherson nachdem die Russen in Zaporizhzhia voll committed sind aber man wird sehen.

Vom Schreibtisch aus würde ich grundsätzlich konservativer vorgehen und auf einen überwältigenden Angriff mit allen verfügbaren Kräften östlich von Polohy mit Stoßrichtung Mariupol setzen. Aber es ist schwierig einzuschätzen, wo hier die logistischen Limitationen liegen und welche Kräfte der Feind gerade dort zusammengezogen hat.
Und ehrlich gesagt, wenn sie tatsächlich mit irgendetwas in Richtung 30 Brigaden angreifen können sollten müssten sie sich schon sehr dumm anstellen, damit nicht irgendwo etwas nachgibt.