Zitat: Dieser Konflikt kann nicht mehr pausiert oder beendet werden, ohne dass die russische Seite die Überhand behält. Russland wird alles was es hat, über Jahre, in diesen Konflikt werfen, dabei auf beiden Seiten Menschen und Material verheizen und einen totalen Abnutzungskrieg praktizieren.
Ich kann mit diesem Denkansatz nicht ganz mitgehen.
Mit einem ‚Totalen Krieg über Jahre‘ würde Russland / das jetzige Regime dort immense Risiken eingehen, die meines Erachtens mindestens die Gefahren einer tatsächlichen, aber propagandistisch zu Hause verkaufbaren Niederlage bei weitem übersteigen.
Was würde Russland in diesem Szenario gewinnen? Eine niedergerungene, völlig zerstörte, weitgehend entvölkerte, effektiv wertlose und letztlich nicht kontrollierbare Ostukraine.
Was hätte Russland verloren? Womöglich deutlich mehr als eine Million Mann, die Kriegsfähigkeit seiner Landstreitkräfte auf effektiv für immer, jede Aussicht auf politisches und wirtschaftliches Rapprochement mit der Westlichen Welt auf viele, viele Jahre hinaus …
Was hätte Russland auf dem Weg dahin riskiert? Einem Regime Change zu Hause, weil das Volk in der xten Mobilisierungswelle vielleicht doch mal die Schnauze voll hat, eine Palastrevolution weil irgendwem sein Boot in Italien wichtiger ist als Putins Traum von Großrussland, ein Militärputsch weil irgendein Oberst die Herren in Kreml für zu inkompetent hält, ein militärischer Kollaps weil irgendwann den USA doch noch einfällt das der Zirkus mit der Lieferung von 1.000 Abrams vorbei wäre, ein Kriegseintritt der Nato aufgrund welcher Umstände auch immer…
Ich sehe nicht wie man bei einer rationalen Betrachtung darauf kommt, dass man es jetzt das Sinnvolle wäre einen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine zu führen und nur um unter allen Umständen zu siegen den endgültigen wirtschaftlichen und demographischen Tod der eigenen Nation in Kauf nimmt.
Gut, man kann immer meinen, dass Putin halt persönlich am Ende der Fahnenstange steht, nichts mehr zu verlieren hat und all in bis zum Ende gehen wird. Nur: Auch und gerade aus der Denkrichtung eines älteren Herren, der gerne als Reinkarnation Peters des Großen in die Geschichte eingehen möchte, sind russische Fahnen am Dnepr keine gute Idee, wenn der Preis dafür der effektive Untergang Russlands ist. Man müsste schon völlig in russischer Blut und Boden Romantik abgesoffen sein um nicht zu bemerken, dass die Rechnung insgesamt sehr negativ für Russland aussehen würde.
Und bei aller Verachtung gegenüber Putin – ich sehe das bei ihm nach wie vor nicht. Ja, er dürfte ein ganzes Stück weit seiner eigenen Propaganda anheimgefallen sein, hat sich unzweifelhaft fürchterlich verkalkuliert und ist bereit den Russen und seinem angeblichen Brudervolk enorme Härten aufzuerlegen – aber beim ‚wir müssen Siegen auch wenn wir dabei untergehen‘ sehe ich ihn nicht. Das könnte er dann auch gleich abkürzen und Atomwaffen einsetzen.
Vielmehr würde ich meinen, dass Putin schlicht den Ansatz verfolgt den er letztlich schon vor Kriegsbeginn hatte: Der Westen wird irgendwann schon nachgeben, im Zweifelsfall halten wir länger durch als die schwachen, zerstrittenen Natoländer. Er hat jetzt halt mit der Mobilisierung (und dem versuchten und gescheiterten Energiekrieg gegen Europa btw) den Einsatz in der Hoffnung erhöht, dass uns die Opfer zu groß werden und die Lust ausgeht. Das ist eine Kalkulation die stimmen kann oder nicht, es ist aber kein Opfern der eigenen Nation als Preis des Sieges.
Die Frage dabei ist nun halt wie weit er diese Kalkulation treiben kann. Die Mobilisierung ging einmal gut. Liesen sich weitere Wellen genauso einfach verkaufen? In einem Szenario indem die erste Mobilisierungswelle vielleicht in einem sehr unrühmlichen Opfergang im Donbass verreckt ist? Wenn sich gleichzeitig die wirtschaftlichen Realitäten des Krieges mehr und mehr auf das russische Volk durchschlagen und das Wehrmaterial jenseits des T-64 doch irgendwann zur Neige geht?
Ich weigere mich an diesem Punkt Russland im Jahr 2023 mit der stalinistischen Sowjetunion 1942 gleichsetzen zu wollen. Ja die russische Propaganda mag diese Parallelen bemühen wollen und sie mag beim einfachen Volk auch verfangen. Aber Putin ist nicht Stalin und Russland wird auch weiter bestehen, wenn es die Ukraine nicht niederringt.
Putin persönlich mag das aus höchst eigennützigen Interessen anders sehen, es gibt hinter ihm genügend Akteure die Mindestens für ihre Kinder eine andere Zukunft wollen. Insofern, solange Putin innerhalb seiner Machtzirkel die Kalkulation, dass der Westen irgendwann einknicken wird, solange man den Einsatz nur erhöht als rational verkaufen kann funktioniert das Spiel. Wenn aber der Punkt gekommen ist, an dem der Einsatz nur unter Inkaufnahme höchster Risiken für das Regime und das persönliche Überleben erhöht werden und nicht ersichtlich ist, dass sich auf dem Schlachtfeld dadurch irgendetwas groß ändern wird, wird es sehr interessant und kann dann mal sehr schnell und überraschend in eine ganz andere Richtung gehen.
Übersetzt in ein praktisches Szenario – Russland Frühjahrsoffensive verbraucht sich nach Bakhmut vor Slowjansk und Kramatorsk, die Ukraine hält am Oskil und weicht vor Zaporizhzhia nur unter gewaltigen russischen Verlusten zurück. Im Sommer dann eine ukrainische Gegenoffensive und die AFU stehen im Spätherbst zwischen Melitopol und Mariupol am Asowschen Meer. Die Kertschbrücke fällt, die russischen Mobilisierten sind verbraucht, die russischen Verluste überschreiten die halbe Millionen Marke, die russische Wirtschaft besteht nur noch aus Propaganda und Kriegsproduktion, die strategischen Reserven an Verbrauchsgütern und Kriegsmaterial werden knapper, die nächsten Mobilisierungswellen treffen das eigentliche Russland zwischen St. Petersburg und Moskau… das soll dann munter so weitergehen in 2024, 25, 26 ? Hundertausende Tote im Kampf um ukrainische Städte und Dörfer die selbst in Russland niemand kennt, auf Jahre hinaus ohne Sinn und Zweck, um diesen Siegens willen? Das bleibt für mich illusorisch. Putin ist mit seinem Mobilisierungsmove schon sehr weit gegangen. Jetzt werden wir sehen ob er damit einen Stich macht. Tut er es nicht wird er den Einsatz nich einfach so nochmal verdoppeln können, sondern er wird neue Antworten liefern müssen.
Wie diese aussehen werden wird sich zeigen. Persönlich halte ich es für recht wahrscheinlich, dass nach der Kulimnation der russische Offensive (sofern die sich materialisiert und nicht in den ersten 10km grandios untergeht, was möglich aber nicht unbedingt wahrscheinlich ist) und vor Beginn einer ukrainischen Gegenoffensive ein (erstes) Verhandlungsangebot von Russland auf dem Tisch gelegt wird. Wie das genau aussehen könnte ist eine sekundäre Frage, annehmen werden es die Ukrainer zunächst eh nicht, aber es wird dafür sorgen, dass nach einer ukrainischen Offensive gegen Ende des Jahres westlicherseits gewaltig Druck aufgebaut werden wird zumindest wieder mit den Russen zu reden. Nach dem Motto - ihr habt doch jetzt eh mal ziemlich schön gesiegt (steht am Asowschen Meer), ewig soll es ja nicht weitgerhen und die Russen wollen ja verhandeln, also einigt euch bitte. Worauf dann - einfach status quo ante bellum ist immer ein heißer Tipp.
Muss alles nicht so kommen, halte ich aber für wahrscheinlicher als einen jahrelangen aktiven Krieg.