Zitat:Euphorie ist es nicht, was ich da empfinde. Und keineswegs darf man jetzt die Situation unterschätzen, den Feind unterschätzen (das ohnehin niemals), und insgesamt ist die Lage meiner Meinung nach katastrophal. Ich hänge mich mal weit aus dem Fenster, aber ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass wir noch zumindest den Einsatz taktischer Nuklearwaffen gegen die Ukraine erleben werden. Aber selbst wenn das nicht stattfinden sollte: es wird noch alles wesentlich schlimmer werden. Zweifelsohne. [...]
Vereinfachst gesagt: es fehlt ein nachhaltiges Konzept für die Unterstützung der Ukraine.
Das ist in der Tat ein wichtiger Punkt. Vorab: Also Euphorie macht sich bei mir auch nicht breit, mir wäre es am liebsten gewesen, wenn dieser hirnrissige Krieg nie begonnen worden wäre. Aber gut, es ist leider so, wie es ist. Gleichwohl allerdings hat dieser Krieg die Schwächen und die innere Zersetzung der russischen Streitkräfte und damit auch faulige Innere des Systems Putin schonungslos offengelegt. Ohne diesen Krieg würden wir vermutlich immer noch von einer erheblichen Übermacht Russlands ausgehen und den russischen Streitkräften ein entsprechendes konventionelles Übergewicht unterstellen, zumindest dem Heer.
Dass es nun anders sich darstellt, ja geradezu man augenreibend vor diesem russischen Chaos steht, ist eine Erkenntnis aus den letzten sechseinhalb Monaten. Allerdings sollte man daraus nicht ableiten wollen, dass das für alle Zeiten so bleibt. Die russischen Streitkräfte werden irgendwann wieder aufgebaut sein und es werden dann auch andere Politiker als jetzt ein Auge darauf haben, weswegen man, wie angemerkt, einen Gegner auch nicht unterschätzen darf. Allerdings schätze ich, wenn die Sanktionen weiter beibehalten werden, dass die Russen grob fünf bis zehn Jahre brauchen, um ihre Armee halbwegs wieder aufzubauen. Und das abgrundtiefe moralische Dilemma, in das der skrupellose Putinismus mit all seinen Lügen und seiner Korruption das Land gestürzt hat, wird noch lange nachwirken und viel, viel Vertrauensarbeit seitens einer kommenden, zukünftigen Führung notwendig machen. Um diese mutwillig angerichteten "Schäden" an der russischen Seele auszubügeln, reichen zehn Jahre vermutlich gar nicht aus. Hinzu kommt noch der Vertrauensverlust bzgl. Moskau in den kaukasischen und zentralasiatischen Staaten. Der gegenwärtige Rassismus der oberen Führung hat auch hier massive Schäden bereits jetzt schon hinterlassen.
Weiterhin: Dass kein richtiges Konzept für die Ukraine besteht, ist durchaus richtig. Aktuell zielt quasi alles darauf ab, einen Sieg der Russen abzuwenden, da dies katastrophal für die Demokratie wäre. Und nun ist es so, dass die Ukrainer mehr oder minder auf dem Vormarsch sind, was anfangs kaum jemand für möglich gehalten hat, und dass man sich überlegen sollte, wie weiter verfahren werden soll. Bremst man die Ukrainer irgendwann ein, damit sie nicht größenwahnsinnig werden und die Grenzen überschreiten? Lässt man sie nur den Donbass erobern? Liefert man deswegen nur mehr Artillerie und Defensivsysteme, aber keine Panzer, damit sich die Offensivoptionen eingrenzen lassen? Wie verhält man sich, wenn sie die Krim zurückholen wollen? Welche Konzepte gibt es für einen Wiederaufbau des Landes? Und wer sammelt die ganzen Waffen wieder ein bzw. verhindert, dass sie kriminellen Banden in die Hände fallen?
Zitat:...den Russen ist eine strategische Überraschung gelungen, bis zum Schluss wollte der ukrainische Präsident nicht wahrhaben, dass es jetzt mehr wird als eine bloße Besetzung der Seperatistengebiete und die ukrainischen Streitkräfte waren eben nicht vorbereitet, obwohl es Warnungen genug gab.
Sind wir mal ehrlich: Die meisten von uns haben eine derartige "full scale"-Invasion als eher unwahrscheinlich angesehen, auch ich selbst ging entweder von einer reinen Drohung (maximaler psychologischer Druck), um Ziele durchzusetzen, oder - wenn überhaupt - von einem begrenzten Krieg zum Abschneiden und Absichern des Donbass aus. Dass es dann anders kam, hat mich sehr überrascht, und auch die meisten Bekannten und Freunde von mir. Insofern will ich Selenskyj gar nicht mal so viele Vorwürfe machen, zumal er zwar einerseits seinem Volk die Wahrheit sagen muss, aber er andererseits auch keine Panik schüren sollte.
Schneemann