Thomas Wach schrieb:
Zitat:Die Stilisierung der MAD als Kerninhalt der Abschreckung als puren Dualismus zweier atomarer Vormächte hatte strukturell schon im Kalten Krieg einen mächtigen Knacks bekommen, insbesondere als die damals als irrational gefüchteten kommunistischen Chinesen die Atombombe erwarben. Dann kamen auch Franzosen mit ihrer eigenständigen force de frappe, die Briten und die Israelis hinzu.
Teils, teils. Die reine duale Abschreckung hat sich zwar verändert auf eine auf mehrere Länder bezogene, aber sie war immer noch eine zweigleisige (sprich: Ost-West-Konfrontation), allenfalls dreigleisige (hierbei spreche ich vom miteinbezogenen sowjetisch-chinesischen Gegensatz in den 60ern parallel zum Ost-West-Gegensatz). Von einem Knacks möchte ich insofern (noch) nicht sprechen durch die atomare Aufrüstung dieser Staaten. Richtig zum Bruch kam es erst, als andere Länder, die sich nicht diesem Schema zurechnen lassen (auch wenn das Schema selbst seit 1990, zumindest im Osten, sich überlebte), atomar aufrüsteten, etwa Pakistan, Israel oder Indien und seit verschiedene Länder Ambitionen diesbezüglich ins Auge fassten (Iran, Syrien, Südafrika). Diese Länder kann man keinem direkten Bereich mehr zuordnen, auch wenn z. B. Israel vom Westen unterstützt wird oder Nordkorea von China Hilfen erhält. Insofern: Die Proliferationsproblematik hat erst seit 1990 sich so verändert, als das sie als "Knacks" herhalten könnte.
Zitat:Und die Abschreckung funktionierte dennoch weiter, weil die strategisch-strukturelle Ausrichtung eben nie diffus, sondern klaren Macht- und Konfliktstrukturen folgten und folgen. Auch ein nukleares Nordkorea oder die neuen Mächte Indien und Pakistan, auch ein Iran, agieren als nukleare Mächte nicht in einem diffusen globalen Rahmen, sondern haben als Regionalmächte eine klare Axiomatik, eine klare Konfliktmatrix, in der nicht jeder irgendwie diffus jeden abschreckt, sondern eben schon je nach Macht bestimmte, klare Konfliktstrukturen existieren, die auch in den Fällen regionaler Autoritärer Regime meistens bililateral, höchtens trilateral strukturiert sind.
Daher hat das Argument von der verschwindenden Kraft der Abschreckung bei einer zunehmenden Anzahl der Mächte im Einzelfall nicht so viel Relevanz. Pakistan und Indien beziehen sich beispielsweise aufeinander, höchstens China spielt da noch eine Rolle. Nordkorea referiert mit seiner Abschreckung ganz deutlich auf die Allianz USA/Südkorea und auch ein Iran würde mit seinen Atomwaffen einen klassischen Dualismus mit der engen Allianz von USA und Israel ausfechten.
Daher gibt es im Rahmen der strategischen Studien auch beispielsweise in den USA durchaus die Meinung, dass auch gegenüber dem Iran Abschreckung funktionieren würde.
Derzeit mag die Abschreckung noch teilweise funktionieren, aber wenn noch andere Länder nachziehen, wird sie, glaube ich, durch die zunehmende Zersplitterung an Einfluss auf politische und militärische Entscheidungen verlieren. Und ehrlich gesagt bin ich nicht so sicher, was passiert, wenn noch einige neue Atommächte sich versuchen zu etablieren. Selbst beim Iran sehe ich teils keine klaren Grenzlinien in Sachen Konfliktlogik/Konfliktmatrix, egal ob Afghanistan (Taliban), pakistanische Aktivitäten, teils der Irak, die eh verhassten Saudis oder Israelis oder gar Amerikaner. Und, mit Verlaub, Nordkorea scheint sich sowieso von jedem auf dem Planeten bedroht, verraten, etc. zu fühlen, hauptsächlich wohl die USA, Japan und Südkorea, was aber auch schon drei Staaten sind. Ohne größere Probleme würden andere Staaten, die sich ähnlich kritisch äußern, auch in den „Feindeskreis“ aufgenommen werden, einfach, weil sie Kontakte zu den Erstgenannten haben und die gleichen Sorgen teilen. Bei Indien und Pakistan magst du recht haben, dass beide stark aufeinander fixiert sind, es bleibt aber abzuwarten, wie sich das Verhältnis beider zu anderen entwickelt.
Zitat:Was nun die 2-Niederlagen-Theorie angeht, so würde ich auch sie bestenfalls als radikalen, nicht wünschenswerten Extremfall sehen. Denn: Auch im Kalten Krieg existierte die Idee des limitierten konventionellen Krieges, der Fakten schafft und keinen Atomkrieg wert ist. Bei krasser konventioneller Asymmetrie drängt sich dieser Gedanke vielleicht auch auf, allerdings unterschätzt man hier die Dynamik von Konflikten.
Ich unterschätze die Dynamik von Konflikten nicht, keineswegs, deswegen habe ich die 2-Niederlagen-Theorie auch ziemlich lange abgewogen. Allerdings: Hier kann man nicht das Bsp. des Kalten Krieges anbringen. In dieser Zeit wäre ein konventioneller Krieg schon und sicherlich ein nicht mehr zu beherrschendes Risiko gewesen, weil sich eben zwei Supermächte gegenüber standen. Im verkleinerten Maßstab, also im Konflikt mit einer Regionalmacht, sehe ich das Risiko hingegen nicht, ja denke, dass die 2-Niederlagen-Theorie durchaus funktioniert.
Zitat:Letztlich läuft es auf die Risikobereitschaft der Akteure und der Bedeutung der jeweiligen Konfliktgegenstände heraus: Aber die Misachtung gewisser "Grenzen" kann in einer Sogwirkung durchaus eine nukleare Kettenreaktion in Kraft setzen, insbesondere wenn die nukleare Drohung und Abschreckung als klare Drohung besteht und dies absichtlich mit konventionellen Attacken missachtet wird.
Welche nukleare Kettenreaktion soll in Gang kommen? Ich denke nicht, dass Russland, Indien oder China für irgendeinen Autokraten nuklear in die Bresche springen, nur weil man dessen Drohung konventionell ignoriert hat und dieser halsbrecherisch das nukleare Abenteuer sucht.
Zitat:Sowas ist ein Hasardspiel auf allerhöchstem Niveau und mit potentiell allerschlimmsten Folgen. Ob ein konventionell stärkerer Gegner tatsächlich solch hohe Verluste und Opfer in Kauf nehmen will, halte ich für zweifelhaft, zumindest für abhängig vom Kontext.
Nein, das sehe ich nicht so. Wieso sollten die Verluste denn hoch sein? Das setzt voraus, dass das betreffende Regime blind mit der Bombe um sich wirft. Aber das wird wohl eher nicht der Fall sein.
Nehmen wir das Thread-Bsp. Iran: Angenommen, der Iran verkündet morgen, dass er die Bombe hat und übermorgen erfolgt ein konventioneller Luftschlag gegen Ziele im Land. Was soll denn dann die Folge sein, ja was könnte passieren? Will man nun die nukleare Karte ziehen, etwa eine US-Basis in Kuwait zum Ziel eines Atomschlages machen, und sich vor der Weltöffentlichkeit total und endgültig diskreditieren und zum atomaren Abschuss freigeben, was dann den Untergang des Iran mit seinen Jahrtausende alten Zivilisationsgütern nach sich ziehen würde? Recht unwahrscheinlich. Obwohl man nicht mal den Gegner, d. h. dessen Land, richtig greifen kann (außer vielleicht Israel, das in Reichweite läge, wobei fraglich wäre, was man noch abschießen könnte und ob man nebenbei noch viele Tausend Palästinenser töten möchte), sollte man eine derart verhängnisvolle Entscheidung treffen? Ich denke eher nicht. Soll man bspw. einen Atomangriff auf den Irak ausführen, um dort Amerikaner zu treffen, aber nebenbei noch mehrere Zigtausend unschuldige Muslime töten? Oder versuchen, US-Schiff im Golf anzugreifen und die eigene Küste dabei selbst atomar verstrahlen? Nein. Kurz: Es erscheint zwar bitter, aber man wird nichts tun können, ohne das man sich selbst massiv mit dem eigenen Vorgehen schadet. In jeder Hinsicht. Deshalb wird dieses selbstmörderische Vorgehen auch aller Wahrscheinlichkeit nach keine Unterstützer (mehr) finden.
Kurz: Die „eigenen“ Verluste wären begrenzbar, ja überschaubar, wären vermutlich geringer als während des ganzen Irak-Konfliktes (da nur Lufteinheiten, evtl. Schiffe beteiligt sind) und das Ziel ließe sich höchstwahrscheinlich erreichen.
Zitat:Denn für den konventionell unterlegenen Gegner geht es nicht um die Frage nach welchen der 2 Niederlagen er eingeht, sondern ab wann die eigene Niederlage so weit geht, dass ein "nihilistische Remis" als einziger Ausweg bleibt. Und das risiko solch einer ultimativen Option macht das alleinige Vertrauen auf die konventionelle Überlegenheit zum Spiel mit dem Teufel. Sowas kann man heute schon im Konflikt Pakistan-Indien erahnen.
Das ist ein falscher Ansatz, denke ich. Es gibt in einem solchen Fall schlicht kein nihilistisches Remis. Es gibt nur Niederlage oder Niederlage. Das mag zwar bitter erscheinen, es ist aber so. Genau genommen hat die Atombombe in diesem Fall nicht einen wie auch immer gearteten Abschreckungseffekt erzeugt, sondern eine schlimme Zwickmühle eröffnet. Und selbst wenn es der jeweilige Machthaber nicht weiß, seine Generäle dürften es wissen. Sie haben die Möglichkeit zwischen zwei Übeln zu wählen. Und meisten wöllten in dem Fall schon erst mal sich selbst retten, bzw. – da sie auch von ihren Verbrechen wissen (was bei den meisten Diktaturen der Fall ist) – versuchen, ihre Chancen vor einem Tribunal zu verbessern und sich nicht mit halsbrecherischen Ideen endgültig abservieren. Dafür gibt es auch genügend historische Beispiele.
Zitat:Ich jedenfalls würde solche Überlegungen wie die von Schneemann als Eintrittskarte zu atomaren Apokalypsen ansehen und als wenig durchdacht bzw. als höchst riskant.
Das kommentiere ich jetzt mal nicht.
Schneemann.