Hallo Thomas
@all
Ich zweifle nicht, dass Chinas Regierung eine knallarte Parteidiktatur ist - und ich lehne unverhältnismäßige Gewalt ab. Das gilt für beide Seiten.
Ich halte die Dinge, die heute in Tibet ablaufen - wenn das denn stimmt was man von exiltibetischer Seite hört - für weit Überzogen und absolut Unverhältnismäsig.
Das ändert aber nichts daran, dass auch von Tibetern Gewalt ausgegangen ist, und die Tibeter nicht die absoluten "Unschuldslämmer" sind. Die Süddeutsche Zeitung hat das gestern im Artikel auf Seite 3 auf den Punkt gebracht - übrigends einer der wenigen Berichte, die von westlichen Journalisten aus tibetischem Gebiet kommen (und daher relativ frei von der gegenseitigen Propagandamaschinerie sein dürften):
Zitat:Gewalt von allen Seiten
Auch davon, dass die Unruhen in Lhasa in Rassenhass umgschlagen sind, hat D. (ein vom Reporter befragter tibetanischer Mönch mit Handy-Kontakt zu Klöstern in Lhasa) am Telefon gehört. Eine unbekannte Zahl von Han-Chinesen und Angehörigen der (muslimischen) Hui-Minderheit soll unter den Opfern sein. Zahlreiche Läden und Restaurants gingen in Flammen auf. ...
Es scheint tatsächlich so zu sein, dass as von Exil-Tibetern und ihren Unterstütztern im Ausland gezeichnete Bild friedfertiger Tibeter, die zu Opfern chinesischer Staatsgewalt geworden sind, nur einen Teil der Wahrheit widerspiegelt.
...
Ein Diskussion um einen zukunftsfähigen Lösungsansatz kann nur sinnvoll sein, wenn er von der objektiven Tatsachen ausgeht.
Da mag es unbequem sein, eine Mindermeinung zu vertreten, aber das rechtfertigt nicht, mich als "gekaufte Nutte" zu bezeichnen.
Und historisch gesehen war die Ernennung der ersten "Dalai Lama" durch die mongolische Dynastie auf dem Himmelsthron nun mal der Beginn eines Patronageverhältnisses zwischen dem Dalai Lama und der Pekinger Dynastien. Der Deal war "ungestörte Religionsausübung" gegen "politische Macht als Statthalter Pekings". Und da befindet sich der jetzige Dalai Lama als oberster Religionsführer und gleichzeitig Repräsentant der Exilregierung nunmal in einem historischen Bruch.
Inzwischen
Zitat:gleicht das gesamte tibetanische Hochland, nicht bloß die "Autonomie Provinz Tibet" einem Pulverfass.
...
Die chinesische Regierung musste zeitweilig befürhten, die Kontrolle nicht nur über Lhasa und Kerntibet, sondern auch über die tibetischen Gebiete in den umliegenden Provinzen zu verlieren. Deshalb der massive Truppenaufmarsch ....
Was in den von Tibetern bewohnten Gebieten passiert ist, war die Explosion einer angestauten Gewalt, ausgelöst - auch nach Quellen der Exilregierung - durch Demonstrationen von tibetischen Mönchen aus den Klöstern Drepung und Sera bei Lhasa (die gehören de Gelug-Schule an, zu der auch der Dalai Lama gehört) mit der Forderung auf Unabhängigkeit anlässlich des Jahrtages des Aufstandes von 1989.
Ausgelöst - das heißt nicht, dass ich dahinter Absicht vermute, ganz im Gegenteil: ich habe mehrfach betont, dass für mich die (legitimen) Meinungsäusserungen schlicht "ausser Kontrolle" geraten sind.
Ein solcher massiver Aufstand, eine solche Gewaltexplosion muss aber nach der Logik der Parteidiktatur in Peking als Angriff auf die Einheit Chinas und die Vorherrschaft der Partei verstanden werden.
Das waren nicht mehr Forderungen nach Religionsfreiheit (die im ideologischen Gegensatz zum Kommunismus erhoben werden), sondern nach Unabhängigkeit, nach Loslösung von China - letztendlich nach dem Zerfall des Staates.
Und da fallen die Staatskader in ihre alten Reflexe zurück. Die Demonstrationen in Shanghai gegen die Verlängerung des Transrapid sind das eine - da schaut der Staat zu, weil sein Machtmonopol nicht gefährdet ist - die "sezessionsitschen Gewaltexzesse" sind das andere; da kann der Staat nicht mehr zuschauen. Kein westlicher Staat wird Krawalle mit Brandschatzungen tolerieren (Stichwort Kreuzberg) - und kein Staat wird gewaltfrei zuschauen, wenn über ein Viertel seines Staatsgebietes mit Gewalt herausgebrochen werden soll.
Wie kann es nun weitergehen?
Was ich in Israel / Palästina ständig predige gilt auch hier: man kann nicht ein ganzes Volk über Jahrzehnte hin mit Gewalt "am Boden halten".
Da staut sich nur Aggression an, die in immer kürzeren Abständen und in immer stärkeren Ausbrüchen exploidert.
Nächtliche Razzie in Klöstern, Schüsse auf unbewaffnete Demonstranten und ähnliches führen vielleicht zu eine vorübergehenden Eindämmung des Gewaltpotentials, aber nicht zu einer Lösung.
Chinas Regierung muss erkennen, dass es auf Dauer seinen Machtanspruch über Tibet nur in Kooperation mit den buddhistisch-lamaistischen Würdenträgern sichern kann - allen voran dem Dalai Lama. Aber die Entwicklung von tragfähigen Lösungen setzt voraus, dass die Tatsachen objektiv erkannt sind.
Die Verteufelung des Einen (so sehr ich das harte Durchgreifen der "alten Kader" für falsch halte) hilft genauso wenig weiter wie die schwärmerische Verhrung des Anderen.
Entscheidend sind Lösungen, die eine Konkordanz ermöglichen.
Dabei wird es nicht unbedingt erleichtert, dass wir eigentlich vier Konfliktbereiche haben:
= den religiösen Konflikt über die freie Religionsausübung und die Freiheit der Religionsgemeinschaft, die Auswahl, Ausbildung und Einsetzung ihrer "Amtsträger" selbst zu regeln
= den politischen Konflikt zwischen der Exilregierung und der Regierung in Peking
= den ethnischen Konflikt zwischen ethnischen Tibetern und dem Han-Herrenvolk (inclusive Schule, Schrift und Sprache) und
= einen sozio-ökonomischen Konflikt zwischen den zurück gebliebenden Tibetern und den geschäftstüchtigen Han-Chinesen, die (nicht nur in Tibet) zunehmend das Wirtschaftsleben beherrschen.
Hinsichtlich der religiösen und politischen Konflikte könnte Europa einige Lösungsansätze liefern.
Das seit fast zwei Jahrtausenden entwickelte europäische Staatskirchenrecht ("Gebt Gott was Gottes und dem Kaiser was des Kaisers ist") kann aufgrund seiner ausgefeilten unterschiedlichsten Lösungen der Konkordanz zwischen Kirche und Staat durchaus in einigen Punkten als Muster dienen.
Religionsfreiheit bedeutet auch, dass die Religionsgemeinschaft die Ausbildung, Auswahl und Ernennung ihrer geistlichen Würdenträger selbst regeln können.
Im Endeffekt geht es da um eine ganz einfache Gleichung:
je mehr Religionsfreiheit, desto weniger Einmischung der Kleriker in die Politik ....
solange der Dalai Lama zugleich Religionsführer und Leiter der Exilregierung ist, besteht ein Dissens - und ein historischer Bruch.
Auch hinsichtlich von Autonomieregelungen gibt es in Europa die unterschiedlichsten erfolgreichen Muster. Ich denke an Südtirol, oder Grönland und Dänemark ... ein breites Spektrum an Mustern steht da zum Studium zur Verfügung,
und Tibet könnte gerade wegen Taiwan ein weiteres Muster für die Deng'sche Maxime von "einem Land und zwei Systemen" sein.
Allerdings: die Oberherrschaft, das Letztenentscheidungsrecht Pekings, wird zumindest in den wichtigsten Kernbereichen der Politik nicht "angekratzt" werden können.
Eine Einigung in diesem Bereich verlangt letztendlich, dass die tibetanische Exilregierung sich selbst abschafft.
Ein tibetanisches Parlament könnte dagegen in einigen Bereichen wie etwa dem Bildungs- und Sozialbereich - das wäre das Muster für Taiwan - entsprechende Beschlusskompetenzen erhalten.
Was kann der Westen tun?
Ich denke, unsere Politiker müssen sich im Klaren werden, wo die Prioritäten des Westens sind. In letzter Konsequenz heißt die Frage:
"Wirtschaft oder Menschenrechte".
Wenn man bereit ist, scih für Letzteres zu entscheiden, muss man auch bereit sein, bei Ersterem Verluste und möglicherweise herbe Rückschläge hinzunehmen. Das ist gerade in der derzeitigen Wirtschaftssituation eine nicht unbedingt einfache Entscheidung.
Ich halte wenig von einem Boykott der Olympischen Spiele. Die Sportler sind nicht dafür da, Fehler der Politik auszubaden.
Ich halte vielmehr von politischen Sanktionen, erst auf dem "diplomatischen Parkett",
von Wirtschaftsbeschränkungen,
und letztendlich - auch wenn das nicht einmal vom Dalai Lama gefordert wird - bis zur Drohung (und ggf. auch Durchführung) einer völkerrechtlichen Anerkennung Tibets.
"Was dem Kosovo recht ist kann für Tibet nur billig sein".
Und "abgewendet werden" dürfte diese völkerrechtliche Anerkennung nur, wenn Peking und der Dalai Lama eine Vereinbarung treffen, die Religionsfreiheit gewährt und den Status des Landes regelt.
Denn: China hat seit fast 50 Jahren nicht geschafft, das Problem zu lösen.
Wenn China trotzdem auf der "Nichteinmischung in innerchinesiche Angelegenheiten" verharrt, dann hat der Westen nur mit der völkerrechtlichen Anerkennung Tibtes die formale Möglichkeit, sich aktiv in das Geschehen einzumischen.
Ja, das würde einen neuen "kalten Krieg" - diesmal mit China - auslösen. Das muss uns klar sein.
Und: die BRIC-Staaten - Brasilien, Russland, Indien und China genügen sich selbst. Ein zwangsläufig folgender "Wirtschaftskonflikt" würde uns wohl unendlich viel mehr treffen als die agilen Chinesen.
dazu ein Spiegel-Artikel "Warum Wirtschaftssanktionen gegen China sinnlos wären"
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