Ottone:
Die Darstellung der BpB wie des Lewada Institutes, dass konservative Werte in der russischen Regierungspartei
in Wahrheit keine Rolle spielen teile ich durchaus. Die Selbstdarstellung und die Wahrnehmung durch die russische Bevölkerung sind aber durchaus konträr dazu. Es spielt gar keine Rolle ob da die Macht an der Führungsspitze durch Nihilisten ausgeübt wird und die in der Propaganda hervor gehobenen Werte in Wahrheit gar keine Rolle spielen - es sind eben diese Werte derentwegen viele Russen dieser Partei dennoch folgen.
Die CSU ist auch in Wahrheit in ihrer Führung und weiten Teilen ihrer Mandatsträger keine christlich-soziale Partei, dessen ungeachtet wird sie von einer Mehrheit der Bayern gewählt, und dies nicht weil sie in Wahrheit diese Werte nicht vertritt welche sie propagiert, sondern weil man glaubt dass sie eben sehr wohl für diese Werte eintritt. Es ist nicht so relevant wie etwas in Wahrheit ist, sondern viel relevanter ist es, wie es wahrgenommen wird.
Zitat:Allein die Haltung zum Thema LGBT reicht jedoch nicht aus um nach Konserativ ja/nein zu differenzieren.
Zweifelsohne. Auch radikale Futuristen welche revolutionäre proto-faschistische politische Ansichten vertreten können hier die gleiche Position vertreten. Ich wollte mit der Nennung dieses Punktes auch nicht darauf hinaus, daraus eine Einordnung als Konservativ zu begründen, sondern nur darauf, dass "wir" im Westen gerade wegen solcher ideologischer Unterschiede hier Probleme mit der aktuellen russischen politischen Auffassung haben.
Aber untersuchen wir mal was für Werte von der Staatspartei in Russland propagiert werden:
(und um es nochmal zu betonen, es geht nicht darum wie es in Wahrheit ist, sondern darum was behauptet wird und wie es wahrgenommen wird - die Mehrheit der Russen ist nicht deshalb für die Staatspartei weil diese korrupt, skrupellos und geldgierig ist (obwohl solche Führungsfiguren in Russland durchaus bewundert werden), sondern weil sie sich konservativ
darstellt)
Und nehmen wir für diese Untersuchung Aussagen der BpB, und damit eine unverdächtige Quelle:
https://www.bpb.de/internationales/europ...stum?p=all
Zitat:Die andere Option war, die konservative Bevölkerungsmehrheit zu mobilisieren und sie der kritischen Opposition entgegenzustellen – mit der Perspektive, die kritischen Gruppen auszugrenzen. Der Kandidat Putin musste in diesem Fall als konservativer Bewahrer und Schützer der Unterprivilegierten auftreten.
Ein Team um den noch aus der Sowjetära bekannten Filmregisseur Stanislaw Goworuchin organisierte die Wahlkampagne und setzte dabei auf die konservative Grundstimmung in der Bevölkerung und die verbreitete Angst vor Veränderung. Mit Hilfe der staatlich kontrollierten elektronischen Medien und gestützt auf die föderalen und regionalen Apparate sprach die Kampagne große Teile der Bevölkerung an. Am 4. März 2012 ereichte Putin in der Tat ein Wahlergebnis von 63,6 % und wurde damit zum dritten Mal Präsident Russlands.
Die Armut, die Ineffizienz der Apparate, die Korruption und das schlechte Unternehmensklima – all dies wurde nicht verschwiegen, doch lösen sollte sie "eine moralisch gesunde Gesellschaft". Den "geistigen Reichtum und die Einheit des russischen Volkes" wollte man pflegen, den Bürgern "Ergebenheit gegenüber der Familie" und "Verantwortung für das Schicksal des Vaterlandes" nahe bringen und so die Probleme lösen.
Technischer und ökonomischer Fortschritt gingen Hand in Hand mit nationalkonservativer Konsolidierung.
Das Programm der dritten Putin-Administration .....zielte auf die unterprivilegierte Bevölkerungsmehrheit außerhalb der Metropolen, denen man bessere Lebensverhältnisse versprach, während man sie in ihren antimodernen Vorstellungen bestätigte.
Sie schufen den Unterbau für die nationalkonservative Wende. Die Putin-Administration setzte darauf, dass große Teile der russischen Bevölkerung durch nationalistische Parolen ansprechbar sind.
Dazu trug gewiss bei, dass Putin den intelligenten Manipulator Wladislaw Surkow, der über Jahre Parlament und Parteien "gelenkt" hatte, aus der Präsidialadministration entfernt, und durch Personen ersetzt hat, die – wie Sergej Iwanow – eher dem konservativen Lager zuzurechnen sind.
Die Provokation, die eine weibliche Punkband namens "Pussy Riot" in der Moskauer Erlöserkathedrale inszenierte, erlaubte es der Führung, sich für die Wahrung russischer Werte einzusetzen – und damit breite Zustimmung zu ernten.
So bleibt der Eindruck, dass es allein um eine nationalkonservativ legitimierte Stabilisierung geht, die den kleinen Schönheitsfehler hat, dass sie die Balance des Elitenkartells gefährdet. Obendrein kann man sich mitunter des Eindrucks nicht erwehren, dass Präsident Putin das rechte Milieu, das er nutzt, nicht mehr zur Gänze kontrolliert. Und das ist gewiss Grund zur Sorge.
Soviel dazu. Und nun lehne ich mich mal aus dem Fenster und behaupte: dass Putin wie ein Gros der Eliten welche die Staatspartei in Russland lenken weder konservativ sind noch echte Nationalisten. Es handelt sich um skrupellose Machtmenschen die im Prinzip überhaupt keinerlei Werte haben. Soweit also stimmte ich durchaus mit dem genannten Institut überein. Dessen ungeachtet bedeutet dass eben nicht, dass diese von dieser Elite lediglich propagierten Werte irrelevant wären. Im Gegenteil: sie sind der primäre Grund für die Macht der Staatsapartei. Gerade weil sich diese erfolgreich bei vielen Russen als Konservativ verkaufen / darstellen kann herrscht sie. Gerade deshalb hat sie auf dem Land so viel Zustimmung, weil dort die Bevölkerung extrem konservativ ist.
Die Führung der Partei mag daher alles andere als konservativ sein, die Partei selbst muss sich als National-Konservativ darstellen und auch eine solche Politik zumindest in bedeutenden Anteilen praktisch real betreiben, sonst würde sie gestürzt werden. Putin muss daher selbst als Person sich ständig so darstellen, sonst würde er sich nicht halten können. Das er in Wahrheit charakterlich ganz anders ist spielt gar keine Rolle.
https://c8.alamy.com/comp/DP83MC/russian...DP83MC.jpg
https://static.themoscowtimes.com/image/...BB5ED.jpeg
https://www.bbc.com/news/world-europe-51719764
https://www.youtube.com/watch?v=zpdkDZIkMbg
https://www.youtube.com/watch?v=euxt0argojI
https://en.wikipedia.org/wiki/Conservatism_in_Russia
Der Widerspruch zwischem dem Nationalkonservatismus einer Mehrheit der Russen, welcher von der aktuellen Elite gezielt zum Machterhalt noch geschürt und hochgeheizt wird und der wahren Natur des Regimes wird natürlich diesem über kurz oder lang um die Ohren fliegen. Daraus wird aber keine pro-westliche, liberale russische Gesellschaft entstehen. Sobald das System Putin fällt, wird Russland stattdessen massiv nach Rechts rücken. Das stellt für Europa eine erhebliche Gefahr dar.
Die Strategie zum Machterhalt der Elite um Putin ist daher im Prinzip der größte Fehler Putins, wenn sie auch zum Machterhalt vermutlich unerlässlich war. Die Fernwirkungen aber sind eine direkte Gefährdung des Friedens in Europa.